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Gesundheit: Görings Geisterdörfer

Ein verschollener Atlas zu Rohstoffvorkommen in Europa ist als Reprint erschienen

Am frühen Morgen des 21. April 1945 verlässt Hermann Göring Berlin in Richtung Berchtesgaden. Ein Sonderzug mit Dingen, die ihm bei der geplanten Nachfolge Hitlers als Regierungschef wichtig scheinen, ist bereits einige Tage zuvor Richtung Obersalzberg unterwegs. Aus Görings Fluchtplan wurde nichts. Zunächst wird Göring von der SS, später von den Alliierten verhaftet.

Während sich die französischen Truppen an dem Champagner des „Rüstungsdiktators“ gütlich tun, stellen die Amerikaner ein Dokument sicher: 33 Karten Europas hat Göring für Zwecke der Kriegswirtschaft anfertigen und in offenbar geringer Auflage für die NS-Führungsriege drucken lassen. Von diesem Werk ließen die Amerikaner eine Version erstellen. „Goering’s Atlas“, wie in großen Lettern auf dem Titelblatt zu lesen ist, diente ihnen zur Vorbereitung der Nachkriegsordnung, wie der Bielefelder Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser vermutet.

Ein Exemplar dieser Fassung ist nun vor einem Jahr in Hamburg aufgetaucht. Der Verlagskaufmann Peter Wille ließ die Authentizität durch Abelshauser prüfen. Unklar bleibt zwar, ob noch ein deutsches Original existiert. Doch fand sich in der Library of Congress in Washington ein zweites Exemplar des amerikanischen Originals, in dem lediglich die deutschen Bezeichnungen von Ländern, Regionen und Rohstoffen durch die englischen ersetzt wurden. Mittlerweile liegt das faksimilierte Reprint vor. 33 Karten der Formate in einer Größe von 50 mal 70 und 50 mal 50 Zentimetern. „Göring’s Atlas“ gliedert sich in fünf Teile: Fünfzehn Karten zeigen „Großdeutschland“, acht Karten die westlichen Besatzungsgebiete, je drei Blätter entfallen auf die östlichen Besatzungsgebiete, Dänemark und Norwegen sowie Serbien und Griechenland. Rohstoffvorkommen wie Öl, Kohle und Erze sind ebenso verzeichnet wie Kraftwerke oder Industriestandorte zur Produktion von Autos, Zügen oder Flugzeugen.

Interessant sei das Kartenwerk vor allem für Wirtschaftshistoriker, die die noch immer unterschätzte ökonomische Dimension des von Deutschland angezettelten Zweiten Weltkrieges erforschen wollten, sagte Abelshauser.

Zu den NS-Fantasien vom „Lebensraum im Osten“ gehörte die Vorstellung einer Ausbeutung sämtlicher verfügbarer Ressourcen der eroberten Gebiete. Die immensen Investitionen in die Rüstungsproduktion konnten sich nach dem Kalkül des NS-Regimes nur rechnen, wenn am Ende des Krieges die Unabhängigkeit von Rohstoffimporten stehen würde.

Die jetzt vorgelegte Kartenedition zeigt, wie realitätsfern die Großmachtfantasien waren. Die wichtigsten Industriestandorte und Rohstoffvorkommen lagen im Reichsgebiet und in West- und Nordeuropa. Der „Raubzug im Osten“ sei ohnehin weitgehend fehlgeschlagen, weil die Rote Armee bei ihrem Abzug im Spätsommer 1941 die vorhandenen Rohstofflagerstätten unbrauchbar gemacht und fast alle Industrieanlagen bis auf die letzte Schraube demontiert hatte, erklärte Abelshauser. Die in den Karten präsentierte Situation entspreche so gegenüber der vorgefundenen Realität einer „industriellen Variante Potemkinscher Dörfer“.

Nach dem Krieg habe das Kartenwerk den USA dazu gedient, das verbliebene industrielle Potenzial Europas zu ermitteln, glaubt Abelshauser. Tatsächlich blieben deutsche Industriekapazitäten vom Bombenkrieg weitgehend verschont. So sei „Goering’s Atlas“ für die Alliierten mehr als eine bloße Trophäe gewesen.

Goering’s Atlas: herausgegeben und kommentiert von Werner Abelshauser. 33 Karten im Faksimile. Archiv Verlag. Braunschweig 2004. 178 Euro.

Hans von Seggern

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