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Gesundheit: Hochbegabung: Talent ist auch ein Handicap

Hochbegabte sind derzeit in aller Munde, als wichtige Quelle unserer künftigen Eliten. Aber wie man sie möglichst frühzeitig erkennen und fördern soll, ist umstritten.

Hochbegabte sind derzeit in aller Munde, als wichtige Quelle unserer künftigen Eliten. Aber wie man sie möglichst frühzeitig erkennen und fördern soll, ist umstritten. In der sächsischen Kleinstadt Meißen in der Nähe von Dresden startet jetzt ein einmaliges Schulprojekt. Dort geht es um Schüler, die in Tests gleich mehrfache Begabungen zeigten. Für sie wurde ein spezielles Gymnasium geschaffen, das Schülern aus dem ganzen Bundesgebiet offen steht. Das Gymnasium St. Afra ist eine Anstalt des Freistaates Sachsen. Wohl deshalb gelten unterschiedliche Preise für die Unterbringung und die Verpflegung ihrer Zöglinge: Sächsische Eltern blättern monatlich 300 Mark hin, die Gäste aus den anderen Bundesländern müssen das Doppelte einkalkulieren.

Latein und Altgriechisch

Das neue Gymnasium startete im vergangenen August mit 100 Schülern in zwei siebten und zwei zehnten Klassen. In jedem Jahr sollen weitere siebte und zehnte Klassen hinzukommen, so dass im Jahr 2003 die volle Zahl von 300 Schülern erreicht wird. Drei Sprachen werden die Schüler in St. Afra lernen, darunter eine alte Sprache wie Latein oder Altgriechisch. In der zehnten Klasse erfolgt der Sachunterricht teilweise in Englisch. Die Schüler dieser Klassenstufe müssen zudem eine Jahresarbeit in klassischer Philosophie vorlegen. In der Oberstufe wird der Unterricht als vorwissenschaftliches Studium organisiert. Andererseits müssen die Schüler und Schülerinnen auch in der Altenpflege und in der Gesundheitshilfe arbeiten - das soll ihre sozialen Fähigkeiten und Erfahrungen fördern.

Hoch begabte und besonders talentierte Schüler ohne Tests zu erkennen, ist nicht immer leicht. Die kleine Silke hat die Mitarbeit in der Schule verweigert, weil es ihr zu langweilig wurde. Und weil die Lehrer ihr immer wieder sagten, sie solle den Unterricht nicht stören oder nicht verträumt aus dem Fenster schauen. Erst nach einem Aufenthalt in der Kinderpsychiatrie stellte sich heraus, dass Silke zu den hoch begabten Kindern zählt. Die Praxis kennt viele ähnliche Beispiele: Deutsche Pädagogen werden während ihrer Ausbildung an den Universitäten zu wenig darauf trainiert, solche Fälle zu erkennen. Oft übersehen sie die besonderen Begabungen ihrer Schützlinge, denn zunächst fallen diese nur dadurch auf, dass sie stören: Hoch begabte Kinder sind meistens unterfordert. Entweder spielen sie den Klassenclown oder sie igeln sich ein. Andere Kinder gelten als Streber oder als unnahbar und sind deswegen bei ihren Mitschülern unbeliebt. Oft sind es auch die Lehrer, die den kleinen Außenseitern das Leben zusätzlich erschweren.

Weil fertige Rezepte fehlen und die Forschung noch am Anfang steht, müssen sich Schulleiter, Lehrer und Eltern derzeit eigene Konzepte für hoch begabte Schüler überlegen. So geht der kleine Niko Morin in die erste Klasse einer Münchener Grundschule. "Niko macht eine Sache nie zweimal", beobachtet seine Lehrerin Siegrun Müller. "Er lässt sich nicht gerne helfen und sucht eigene Lösungswege." Schon als Kleinkind sei Niko immer sehr vernünftig gewesen, bestätigte seine Mutter. Zu vernüntig vielleicht. Aber damals habe sie sich nichts dabei gedacht. Für Niko und andere hoch begabte Kinder gibt es in ihrer Grundschule an der Sambergerstraße ein so genanntes Pullout-Programm: Der Schüler bleibt in seinem Klassenverband und wird in einer Spezialgruppe in seinen besonderen Fähigkeiten gefördert. Das soll verhindern, dass diese Kinder sozial isoliert werden. Denn Hochbegabung heißt nicht, dass dieses Kind alle Schulfächer gleich gut beherrscht.

Psychologen sprechen von hochbegabten Kindern, wenn diese einen Intelligenzquotienten (IQ) von größer als 130 aufweisen. "Sie haben Ausdauer, können sich konzentriert mit einer Sache beschäftigen und besitzen eine ausgeprägte Neugier", beschreibt der Psychologe Kurt Heller von der Universität München diese spezielle Gruppe, die immer mehr in das öffentliche Interesse rückt. Nach seiner Auffassung reichen herkömmliche IQ-Tests jedoch nicht aus, um spezielle Begabungen bei Kindern zu erkennen. Solche Tests könnten lediglich die formale und logische Denkfähigkeit bescheinigen. "Heute verwendet man so genannte differentielle Tests, die unterschiedliche Aufgaben beinhalten", sagt Heller. Als Ergebnis entstehen bestimmte Begabungsprofile. Der Psychologe rät allen Lehrern: "Präsentieren Sie den begabten Kindern keine vorgekauten Themen, sondern geben Sie Hinweise, wo beispielsweise weitere Literatur zu einem bestimmten Thema zu finden ist."

Die Direktorin und Lehrerin Siegrun Müller steht allerdings vor anderen Problemen. Niko beispielsweise verweigert die Erledigung von Schulaufgaben, deren Sinn er nicht einsieht. Er wandelt diese Aufgaben dann so um, dass er darin eine besondere Herausforderung entdeckt. "Das Ergebnis ist, dass er das gestellte Thema verfehlt", erzählt sie. "Mit seinen hoch gesteckten Zielen kommt er nicht immer klar." Auf diese Weise läuft sogar ein hoch begabter Schüler unter Umständen Gefahr, das Klassenziel nicht zu erreichen. Auch talentierte Kinder müssen sich wie ihre Mitschüler den Vorgaben des Schulbetriebs unterordnen. Das klingt paradox: hoch begabt und trotzdem ein Sitzenbleiber?

Hoch begabt zu sein, galt im Nachkriegs-Deutschland lange Zeit als verpönt. "Es gab einen erheblichen Prozentsatz in der Bevölkerung, der seinen Alltag nicht in den Griff bekam", meint die Sozialwirtin Ulrike Nimeth. Sie betreut hoch begabte Kinder und beobachtet ihre Eingliederung in die Gesellschaft. "Niemand hat gefragt oder nachgeschaut, warum es nicht klappt." Teilweise ist dieses Phänomen bis heute erhalten geblieben. Von besonderen "Risikogruppen" spricht auch Heller. Kinder von Eltern mit psychischen Auffälligkeiten gehörten in diese Gruppe, oder Ausländerkinder oder aber die ewig benachteiligten Mädchen.

Risikogruppe wie Ausländerkinder

Deshalb sei es wichtig, dass Kinder auch auf den Verdacht einer Hochbegabung hin gefördert werden. Langsam öffne sich die Gesellschaft auch für das Thema und akzeptiert, dass es eine besondere Förderung geben müsse, meint Ulrike Nimeth.

Der Marburger Entwicklungspsychologe Detlef Rost hat das Verhalten hoch begabter Kinder in einer Langzeitstudie untersucht. "Das Bild, das in der Öffentlichkeit vorherrscht, ist völlig falsch", setzt er den Problemen der betroffenen Eltern entgegen, die vor der Entdeckung der Hochbegabung das "Entgleisen" ihrer Kinder auf ihre eigene erzieherische Kappe nehmen mussten. Rost ist überzeugt: "In der Grundschule werden diese Kinder beispielsweise häufiger zu Geburtstagen eingeladen. Als Halbwüchsige haben sie tendenziell etwas weniger Freunde, was aber nicht daran liegt, dass sie nicht beliebt sind: Die Hochbegabten sind anspruchsvoller bei der Wahl ihrer Kontakte."

In den Schulen setzen die Behörden zunächst auf Aufklärung. Das bayerische Kultusministerium beispielsweise hat auf das Drängen vieler Eltern reagiert und eine "flächendeckende Schulung" der Lehrer eingeleitet. Nicht zuletzt sind auch Lehrer bei der Förderung von Hochbegabten besonders gefordert. Michael Mühlbauer ist Leiter eines Münchener Gymnasiums, das besonders interessierte Schüler innerhalb von acht Jahren zum Abitur führt. Er empfiehlt: "Lehrer müssen sich ohne weitere Unterstützung neue Konzepte überlegen, mit denen sie den Lehrstoff eines Schuljahres schneller vermitteln können. Sie müssen innovativ sein, aber die didaktisch-methodische Linie nicht aus dem Auge verlieren."

Gudrun Weitzenbürger

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