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Gesundheit: In Trance

Sprache der Götter: Warum uns Verse nicht ermüden, sondern zum Schwingen bringen

Will man zum Kreis der humanistisch Gebildeten gehören, soll man auch einmal Homer gelesen haben, heißt es. Die allerwenigsten werden sich heute mit dem griechischen Original abmühen. Man kann die altehrwürdige Übersetzung von Johann Heinrich Voß lesen oder neuere Übertragungen in deutschen Hexametern. Doch bei allem Bildungswillen: Wirkt das ewige Gleichmaß Tausender von Langversen nicht bald langweilig, gar ermüdend? Man wagt es kaum auszusprechen: Aber es ist doch immer dieselbe Leier.

Ermüdung? Dieselbe Leier? Ja, diese Verse wirken wohl heute noch ein wenig wie einst – beinahe. In der Tat wurden sie damals von einer „helltönenden Leier“, der mit vier Saiten bespannten Phorminx, recht monoton begleitet. Auf ihre Weise sollten sie so tatsächlich ermüdend wirken.

Dem stillen Leser bleibt heute allerdings nur noch das leichthin Einschläfernde der Verse. Er hört längst nicht mehr den einst hypnotisch wirkenden eindringlichen Ton des Sängers. Er gehört nicht mehr zum eingeweihten Kreis der – im wahren Sinne des Wortes – gebannt Lauschenden.

Durch den unablässigen schwingenden Singsang verfielen sie einst nicht in Schlaf, sondern in eine leichte Trance. Die Trance blendete das Tagesbewusstsein aus und beschwor eine innere Bilderwelt herauf. Der Erzählkreis war ein Bannkreis. Er schloss die Alltagswelt aus und schloss auf geheimnisvolle Weise, das heißt auf rhythmischem Wege, die Welt der Helden und Götter auf.

Zur Wirkung älterer Poesie auf den heutigen Leser schreibt Bertolt Brecht: „Sehr regelmäßige Rhythmen hatten auf mich eine mir unangenehme einlullende, einschläfernde Wirkung wie sehr regelmäßig wiederkehrende Geräusche.“ Geräusche wie das des Regens, der aufs Dach tropft, oder das Surren von Motoren, sagt Brecht. „Man verfiel in eine Art Trance, von der man sich vorstellen konnte, dass sie einmal hatte erregend wirken können; jetzt tat sie das nicht mehr“, fährt der Dichter fort. „In der mir unangenehmen Traumstimmung, die durch regelmäßige Rhythmen erzeugt wurde, spielte das Gedankliche eine eigentümliche Rolle: Es bildeten sich eher Assoziationen als eigentliche Gedanken; das Gedankliche schwamm so auf Wogen einher.“

In der Tat. Der monotone Rhythmus erzeugt einen Zustand eingeengten Bewusstseins. Die Welt ringsum versinkt, und eine imaginierte Welt entsteht. Wir sprechen von leichter Trance. Durch ein Abblenden der Sinne von der Alltagswelt kann man sich vom Wachbewusstsein lösen, um in ein anderes Bewusstsein einzutauchen – ein Schweben zwischen Traum und Wirklichkeit.

In der rhythmisch erzeugten leichten Trance kommt es zu einer anderen Art der Informationsverarbeitung im Gehirn. Regelmäßige Geräusche synchronisieren physiologische Funktionen. Sämtliche Lebensvorgänge im Körper werden ja durch rhythmisch ablaufende Aktivitätsveränderungen in unserem Nervensystem gesteuert.

Deshalb ist auch der rhythmisch wummernde Beat in der Popmusik so begehrt und bietet die Basis einer milliardenschweren Industrie.

Akustischer Rhythmus setzt an in Bereichen des Gehirns. Dort werden die rhythmischen vegetativen Funktionen von Herzschlag und Atmung reguliert. „Durch ständige Wiederholung eines Rhythmus oder einer Melodie können Zustände der Trance bewirkt werden“, sagt der Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeld. „Vermutlich geraten bei dem dauernd wiederholten gleichen Reizanstoß Neuronenkreise ins Schwingen, wobei in Resonanz immer größere Neuronenpopulationen erfasst werden.“ Auf diese Weise würden veränderte Bewusstseinszustände entstehen.

Aber Trance ist auch ein bildgebendes Verfahren. Wie wir aus der Oberstufe des autogenen Trainings wissen, kommt es in diesem außerwachen Zustand zur „autogenen Imagogik“ oder Bilderschau. Es kommt zu einem „katathymen Bild-Erleben“, wie es der Psychoanalytiker Klaus Thomas nennt, der im 20. Jahrhundert das autogene Training in Deutschland verbreitete.

Wenn in den Zeiten Homers der Sänger seinen stundenlangen monotonen metrischen Singsang ertönen ließ, wurden die Hörer in seinem Bannkreis in einen außerwachen, tranceähnlichen Zustand versetzt. Hierfür wurden in grauer Vorzeit die Verse erfunden! Daher spricht der Dichter nicht in Prosa, sondern er singt in Versen.

Beim stillen, einsamen Lesen eines Buches läuft die Story ab wie ein mehr oder weniger deutlicher innerer Film im Kopf. Ganz anders war die Wirkung, wenn zu den Zeiten Homers der Erzähler seinen rhythmischen Gesang live vor seinem gebannt lauschenden Publikum darbot. Dem Hörer erschien die Heldengeschichte in einem durch die leichte Trance ausgestrahlten „katathymem“, ja in göttlichem Licht. Der singende Epen-Erzähler konnte rhythmisch-metrisch ein Bild-Erleben erzeugen, das anscheinend nicht von dieser Welt war.

Wovon auch immer die Verse Homers erzählen mögen – vom Grauen der Kämpfe oder vom Glück der Heimkehr –, den disparatesten Dingen liegt im gegebenen Versmaß etwas alles Verbindendes zugrunde. Alles steht miteinander im Zusammenhang, alles findet sich im Zusammenklang. So hat alles sein Maß, gehorcht einer beweglichen und bewegenden Grundmelodie.

Die Geschichte der Poesie beginnt bei den Analphabeten. Verse gab es schon lange, bevor die Schrift erfunden wurde. Sie sind also ursprünglich nicht in Zeilen gebrochene Texte, wie wir sie heute wahrnehmen, sondern Klangrede.

Doch die Wirkung des alten Zaubers ist längst geschwunden. Aus der Poesie des Sängers – einem Klang-Ereignis – ist Literatur, Schriftstellerei geworden. Der einst gebannt lauschende Kreis der Hörer hat sich zerstreut in die anonyme Leserschaft und verflüchtigt in das stille, einsame Lesevergnügen – manchmal auch beim Lesen von Versen. Anders als es der Schulunterricht heute will, waren sie aber keineswegs eine Sache pedantischen Skandierens und buchhalterischen Zählens von Silben – und sind es ihrem Wesen nach auch heute nicht.

Nein, sie sind ursprünglich erlebte, innerlich bewegende Wirklichkeit, ein Zaubermittel, das älteste Tiefenschichten in uns zum Schwingen bringt, das begeistern, das göttlich inspirierte Bilderwelten evozieren kann. Ja, Verse sind die ureigene Sprache der Götter. Und daher wurde der epische Sänger bei den Griechen zu Recht göttlich genannt, denn er ist „den Göttern an Stimme vergleichbar“, wie es in Homers Odyssee heißt.

Christoph Hönig

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