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Gesundheit: Jahrmarkt der Geschichte

Dem Historikertag in Halle mangelte es an großen Kontroversen und intellektuellen Kristallisationspunkten

Von Jürgen Kocka

und Sven Reichardt

Spätestens seit dem 12. Jahrhundert gibt es in Europa Jahrmärkte, die zur Förderung von Handel, Unterhaltung und Zivilisation unschätzbar viel beigetragen haben. Alle zwei Jahre findet der wichtigste Jahrmarkt der Historiker statt, der Deutsche Historikertag. So letzte Woche in Halle. 2500 bis 3000 Historikerinnen und Historiker aus Universitäten, Schulen und Instituten tauschten Wissen, Erfahrungen und Eindrücke aus. Sie pflegten und bildeten Netzwerke, bereiteten Karrieren vor oder stellten sie dar, hörten zu, diskutierten und besichtigten, vergaben Auszeichnungen und informierten sich, auch über die Produkte der Verlage und über die neuen Medien, die die Geschichtswissenschaft verändern.

Mehr als 250 Referenten in über 50 Sektionen, daneben ungezählte Gesprächskreise und Treffen: Es war ein unüberschaubares Jahrmarkt-Gewirr, mitten in der wieder charmant gewordenen Saale-Stadt. Selten hat sich die deutsche Geschichtswissenschaft vitaler und bunter gezeigt. Die Jüngeren dominierten. Der Historikertag will auch Schaufenster sein, den Stand des Fachs vorführen und in die Öffentlichkeit wirken. Das fällt ihm schwer, schon weil in der von ihm dargebotenen Vielfalt bündelnde Aussagen kaum auszumachen sind. Für die wenigen zentralen Veranstaltungen borgen sich die Historiker merkwürdigerweise meist fachfremde Gäste aus. Der Bundespräsident kam, stellte sich als „Ein-Mann-Geschichtsagentur des Staates“ vor und hielt eine denkwürdige Rede über Erwartungen an die Historiker heute. Hans-Dietrich Genschers Vortrag wurde in Halle zum willkommenen Heimspiel. Monika Maron sprach und las über „Lebensentwürfe und Zeitenbruch“, über Deutsch-Deutsches seit 1990. Niemand erhielt soviel Beifall wie sie, es war wohl der Höhepunkt des Kongresses.

Blass blieb dagegen die – nachträglich ins Programm gerückte – Podiumsdiskussion über Ursachen und Folgen des 11. September. Am stärksten bleibt Hans-Ulrich Kloses nachdenkliche Bemerkung über Innen- und Außenpolitik im Gedächtnis, die von auf Wahlkampf getrimmten Korrespondenten zur Kritik an Schröder aufgeblasen wurde.

Sorge um den Nachwuchs

Schließlich vereinte sich der Kongress in der Sorge um den Nachwuchs, dem es an Stellen fehlt und dem es nach den Bulmahnschen Reformen noch schlechter geht als zuvor. In der Neueren Geschichte kommen statistisch 13 habilitierte Bewerber auf eine freiwerdende Professur. Die Befristungsregelungen des neuen Hochschulgesetzes erschweren die Überbrückung von Wartezeiten bis zur Berufung erheblich. Der Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands fordert die Streichung der neuen gesetzlichen 12-Jahres-Befristung, die die nötige Flexibilität reduziert.

Dass es diesmal an der zentralen, die Öffentlichkeit packenden Kontroverse fehlte, ist nicht zu kritisieren. Aber es fehlte überhaupt an intellektuellen Kristallisationspunkten. Warum nicht ein oder zwei große Historikervorträge oder -podien zu zentralen Fragen des Faches heute?

Der Historikertag stand unter dem Motto „Traditionen – Visionen“. Die Untersuchung von Wahrnehmungen, Denkformen und Diskursen rückte ins Zentrum, das reflektiert die Schwerpunkte des Fachs im letzten Jahrzehnt. Beispielsweise behandelte die von den Hallenser Historikern Andreas Ranft und Stephan Selzer geleitete Sektion „Städte in Trümmern“ die Wahrnehmung und Bewältigung von städtischen Katastrophen im historischen Längsschnitt. Im antiken Rhodos gelang es gleich mehrmals, mit Hilfe von privaten Spenden die verwüstete Stadt aufzubauen, und zwar jeweils prächtiger und größer als zuvor. Der anfänglichen Apathie nach der Feuersbrunst im mittelalterlichen Basel, nach dem traumatischen Erlebnis des schweren Erdbebens in San Francisco 1906 oder nach dem Bombardement auf Dresden im Zweiten Weltkrieg folgten die unterschiedlichsten Verarbeitungsformen. In Dresden wurde das Bild von der untergegangenen Stadt mit wachsendem zeitlichen Abstand immer verklärter. Die Pracht und Bedeutung des „Alten Dresden“ verfestigten sich zu einem Mythos. Die Stilisierung der Tradition erleichterte den Ausbau und die Sanierung der Stadt noch in der jüngsten Zeit. Überhaupt erwies sich die Stadtgeschichtsforschung unter der behutsamen Regie von Heinz Reif (TU Berlin) als stark.

Eine von Wolfgang Hardtwig (Humboldt-Uni, Berlin) und Lucian Hölscher (Bochum) geleitete Sektion zu europäischen Zukunftsvisionen zwischen 1890 und 1940 rückte ungehemmte Planungsphantasien in den Blick. Zunächst war häufig Afrika Experimentierfeld europäischer Raum- und Entwicklungsplanungen, bis diese dann nach 1918, noch einmal vergrößert, nach Europa zurückkehrten. Das Zukunftsbewusstsein der Zeit war maßlos, Machbarkeitsillusionen schossen ins Kraut, man plante in Jahrtausenden. Ob nicht auch durch die Enttäuschung über das Scheitern solch weitgreifender Utopien viele Menschen mobilisiert wurden, wie in der Revolution von 1989, war Gegenstand einer interessanten Diskussion.

Die Brüche der Zivilgesellschaft

Das Interesse der Sektionen zur Wissenschaftsgeschichte richtete sich auf ein derzeit besonders innovatives Feld: den historischen Wurzeln und Brüchen der Zivilgesellschaft wurde nachgegangen. In diesem Rahmen arbeitete Manfred Hildermeier heraus, dass es an reformerischen Alternativen zur Russischen Revolution vor 1917 nicht gefehlt hat und die russische Erfahrung durchaus als Teil einer gesamteuropäischen Entwicklung zu begreifen ist. Politische Visionen im Imperium Romanum wurden analysiert. Reformen in Frauenklöstern des 15. Jahrhunderts wurden in der Spannung zwischen altem Herkommen und neuer Frömmigkeit gedeutet.

Der Markt als historische Institution, der Sozialstaat in seinen vielfältigen Varianten und seinen heutigen Schwierigkeiten, die Autarkiepolitik des Nationalsozialismus, die Vermittlung jüdischer Geschichte in Schulen und Museen – vieles wurde geboten, für unterschiedliche Interessen. Auch über Migration als sozialen und als kulturellen Prozess seit dem späten Mittelalter wurde ausführlich debattiert. Dabei gerieten die Mischungen und Wechselwirkungen von sozial bedingter Erwerbsmigration und religiös oder weltanschaulich motivierter Flucht in den Blick. Zudem wurde deutlich, dass die Identität der Migranten erheblich davon bestimmt wurde, welche Eigenschaften ihnen die Mehrheitsgesellschaft zuschrieb. Migrationen erweisen sich, weltgeschichtlich gesehen, als Normalität.

Kulturgeschichtliches dominierte, wenngleich selten in verabsolutierter Form. Bisweilen hörte man die Voraussage, dass nach dem „cultural turn“ der achtziger Jahre jetzt ein neuer „social turn“ bevorstehe, und zwar international. Erneuert hat sich das Interesse an politischer Geschichte, einschließlich der Institutionen, Symbole und Repräsentationsmuster der Politik. Die Geschichte von Nationalsozialismus und DDR-Diktatur wird nun enger mit der europäischen Geschichte verknüpft und durch Vergleich aus ihrer Isolation befreit. Manfred Hettlings Sektion über die „Volksgeschichte“ der 1930er und 40er Jahre bot dafür ein gelungenes Beispiel.

Die Geschichtswissenschaft war lange ein sehr deutsches Fach. Diesmal blickten viele Sektionen über die nationalen Grenzen hinaus. Europa ist zu einem wichtigen Thema und Untersuchungsfeld geworden. Doch das Interesse und die Kompetenz für die Geschichte nicht-westlicher Teile der Welt sind weiterhin unterentwickelt. Angesichts fortschreitender Globalisierung steht die Frage nach welthistorischen Zusammenhängen verstärkt auf der Tagesordnung. Der nächste Kongress, in zwei Jahren in Kiel, wird gut daran tun, sich ihnen zu widmen.

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