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Kliniken: Der türkische Patient

Immer mehr Berliner Kliniken bieten türkischsprachige Sprechstunden an. Doch der Umgang mit der besonderen Patientengruppe erfordert mehr als nur Sprachkenntnisse.

Zwei Jahre lang plagte sich Fatma Mehtap (Name geändert) mit Hüftproblemen. Sie ertrug die Schmerzen, weil sie sich nicht zu einem Arzt traute. Die 72-Jährige kann kaum Deutsch und hat darunter schon oft in Krankenhäusern gelitten. Diesmal wollte sie sich das ersparen, so lange es ging. Vor kurzem kam endlich die Erlösung: Ihr Sohn rief an und erzählte von einem türkischen Orthopäden, der in einem öffentlichen Krankenhaus arbeitet und Sprechstunden in ihrer Muttersprache anbietet. Mehtap fuhr hin und erfuhr : Sie muss operiert werden. Es sei höchste Zeit.

Die Idee zu den türkischen Orthopädie-Sprechstunden stammt von Ufuk Sentürk, Assistenzarzt im Virchow-Klinikum. Er hat sich von anderen türkischstämmigen Kollegen aus dem HNO–Bereich, die wie er in der Charité arbeiten, inspirieren lassen. „Ich habe schon oft mitbekommen, dass sich Leute nicht helfen lassen wollen“, sagt er, „einfach weil ihnen das Vertrauen gegenüber Deutschen fehlt“. Er hat sich vorgenommen, da abzuhelfen. In Arztpraxen, Apotheken, türkischen Cafés und Moscheen hat er türkische Poster aufgehängt, die für seine Sprechzeiten werben.

Das Untersuchungszimmer des 31-Jährigen ist schmal: Ein Schreibtisch, ein Stuhl, ein Krankenbett. An einem kleinen Hüftmodell zeigt er seinen Patienten den Unterschied von gesunden und abgenutzten Hüftgelenken. Und wie das Ganze nach einer Operation aussieht. Die scheint unter den rund 200 000 türkischstämmigen Berlinern häufig nötig zu sein: „Vor allem Türken werden im Alter oft korpulent, bewegen sich aus Gewohnheit eher wenig und sitzen viel“, sagt Sentürk. Das gehe auf die Gelenke und führe zu ernsten Problemen. Türken hätten zudem teilweise eine andere Körperstruktur, seien eher kleiner und breiter gebaut als Nordeuropäer. Ihre Art, Schmerzen auszudrücken, sei anders. „Hier gibt es einen großen Forschungsbedarf“, sagt Norbert Haas, Direktor der Klinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie und Orthopädie am Virchow-Klinikum. Hier wird jeder Fall wissenschaftlich ausgewertet.

Haas will, dass Ufuk Sentürk sich in diesem Bereich einen Namen machen und profilieren kann. Er unterstützt seinen türkischsprachigen Zögling, der sogar im Virchow-Krankenhaus geboren wurde und hier später als Assistenzarzt lernte. Die Idee einer türkischsprachigen Sprechstunde fand der Direktor großartig. „Medizin ist etwas Hochsensibles“, so Haas. Bei den Untersuchungen müssten Patienten oft intime, persönliche Angaben machen. Vertrauen und Sympathie dem Arzt gegenüber seien da Gold wert. „Hinzu kommt, dass Menschen mit orthopädischen Leiden oft Schmerzen erklären müssen – das könnte ich in einer Fremdsprache auch nicht“, sagt Haas. Sentürk soll im Auftrag des Direktors alle türkischen Patienten mit Hüft-, Schulter- und anderen Gelenkproblemen untersuchen und, wenn nötig, an andere Spezialisten weiterleiten.

Dahinter steckt nicht nur Altruismus: Es geht Charité-Direktor Haas auch darum, Medizin als Ware zu verkaufen. Denn viele Türken, sagt er, würden ihre Angehörigen aus der Türkei nach Deutschland holen, um sie hier beraten zu lassen. Das Vertrauen in die deutsche Medizin sei weitaus größer, bestätigt auch Sentürk. Deshalb seien einige Türken bereit, die Kosten für ihre Behandlung im Ausland zu übernehmen. Auf diesem Markt gilt es, dabei zu sein.

Dass ihm seine Türkischkenntnisse eines Tages helfen könnten, hat Sentürk offenbar während des Studiums geahnt. Neben deutschen Fachbüchern hat er immer auch türkische gelesen und für Arztkollegen häufig die Anliegen türkischer Patienten übersetzt. Dabei hat der Nachwuchsorthopäde schon mal die besonderen Kniffe gelernt, mit denen man an orientalische Leiden herankommt. „Das ist nicht immer leicht“, erklärt er. Der Dialog verlaufe meist so:

Arzt: „Wie kann ich Ihnen helfen?“ Türkischer Patient: „Ach, ich habe gar nichts, meine Frau/mein Mann schickt mich zu Ihnen, ich soll mich mal untersuchen lassen.“ Da müsse man oft genau nachfragen und bohren, wo es weh tut und was die Ursache dafür ist.

Im Wartezimmer von Sentürk haben sich bereits einige Patienten aus der neuen Zielgruppe eingefunden. Güllü Keskin etwa, eine 50-jährige Köchin aus Wedding, ist mit ihrem Mann gekommen, der an Krücken geht. „Es tut gut, dass wir einen türkischen Ansprechpartner haben“, sagt sie. Ihr falle es oft schwer, sich mitzuteilen, „auch wenn mein Deutsch einigermaßen ausreicht“. Ihr Mann Oktay nickt: „Es geht natürlich auch mit deutschen Ärzten, aber wenn es um komplizierte Diagnosen geht, verstehe ich einiges manchmal nicht“, sagt er. Hürriyet Telyakar, eine Hausfrau aus Wedding, kennt noch einen Vorteil: „Deutsche Ärzte sind oft unsensibel und knallen einem die Diagnose meistens direkt vor den Latz“, sagt sie kopfschüttelnd. Türkische Mediziner legten oftmals mehr kulturelles Feingefühl an den Tag, wenn sie Urinproben verlangen oder Spezialdiäten verschreiben.

Auf der anderen Seite der Stadt hat sich ebenfalls ein Arzt des türkischen Klientels angenommen. Stephan Eggeling, Chefarzt der Klinik für Thoraxchirurgie im Vivantes Klinikum Neukölln, bietet seit Juni einmal im Monat eine Sprechstunde mit Dolmetschern an. Jeder fünfte Patient seines Krankenhauses sei türkischsprachig, das neue Angebot habe daher nahegelegen, erklärt er. „Wir wollen ihnen unsere Leistungen besser vermitteln.“ Thoraxchirurgie, das sind Operationen in der Lunge, Brust und Luftröhre. Nikotinerkrankungen, aber auch Krebs aufgrund der asbestverarbeitenden Industrie in Neukölln kämen häufig vor. „Auf die professionellen Übersetzer sind eigentlich nur wenige angewiesen“, sagt Eggeling. „Aber die, die darauf zurückkommen, sind extrem dankbar.“

Ferda Ataman

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