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Gesundheit: Mit Spickzetteln und Bestechungsgeld - An eine Hochschule zu kommen, gleicht oft einem Hindernislauf

Bildung kostet Geld.Auch in Russland ist dies mittlerweile Allgemeingut.

Bildung kostet Geld.Auch in Russland ist dies mittlerweile Allgemeingut. 1994 endete in den meisten Fächern die aus sowjetischer Zeit stammende Gratisfinanzierung des Studiums durch den Staat. Nach dem Rubelverfall und den rapide steigenden Unkosten der Universitäten lautet die Gretchenfrage: Dürfen die Studiengebühren erhöht werden? Die Universität darf höhere Gebühren nur verlangen, wenn ein entsprechender Passus im Ausbildungsvertrag mit den Studenten enthalten ist.

Die Mehrheit der Studierwilligen kann sich indes die Unigebühren nicht leisten. 2000 Dollar im Jahr, rund 50 000 Rubel, sind angesichts des Durchschnittsgehaltes von 2500 Rubeln für die meisten Studenten zu viel. Eine nennenswerte Mittelklasse gibt es allenfalls in einer Handvoll von Großstädten, und die neureichen Russen machen gerade einmal zehn Prozent der Bevölkerung aus. Dennoch stieg die Zahl der Erstsemester bis 1997 von 576 000 (1994) auf 748 000. Spitzenreiter sind nach wie vor die Wirtschaftsfakultäten - 153 000 Erstsemester begannen hier ihr Studium.

In Streitfällen mit den Universitäten haben die Studenten recht gute Karten - wenn sie hartnäckig genug sind. Einer Entscheidung des Bildungsministeriums von März 1997 zufolge sind sie juristisch gesehen "Verbraucher", die mit dem russischen Gesetz zum Verbraucherschutz sehr gut abschneiden. Deshalb beschreiten immer mehr Studenten den Rechtsweg. Einer Studentin des Moskauer ökonomisch-linguistischen Institutes gelang es gar, die Rückzahlung sämtlicher Studiengebühren inklusive Schmerzensgeld von der Uni einzuklagen. Stein des Anstoßes: ein verkürzter Studienplan, inkompetente Dozenten und zugige Auditorien.

Nur gut ein Drittel der Studienplätze sind nach wie vor gratis und fallen an Begabte, die sich bei der Aufnahmeprüfung auszeichnen und die Schule mit einer "roten Medaille" abschließen. Dafür müssen sie in allen Fächern "pjatjorky" aufweisen - das sind Fünfer, in Russland die beste Note. Vom Jahr 2000 an, so warnen Experten, wird sich dieses Kontingent nicht halten lassen, wenn die Bildungsausgaben im Staatshaushalt nicht steigen. Die Hochschulen gehen unterschiedlich mit dem Problem um: Während an der staatlichen Universität im sibirischen Irkutsk eine Rüge unter den "Kommerziellen" die absolute Ausnahme ist, gab es an Pädagogischen Hochschulen schon mehrere Verweise ohne jegliche Rückzahlung der Studiengebühren.

Seit 1995 bietet sich für wenig Betuchte eine zusätzliche Chance: der landesweite Test. Er findet jeweils im April statt und hat die Form von Multiple-Choice-Fragen. Die Ergebnisse gelangen per Internet nach Moskau und werden dort in einem Punktesystem ausgewertet. Von Januar an kann jeder Student gegen die selbst in Russland bescheidene Gebühr von jeweils 40 Rubeln (gut zwei Mark) Probetests ablegen. Sogar schon Acht- und Neuntklässler können den Test absolvieren und sich - bei sehr gutem Abschneiden - schon lange vor Abschluss der Schule schlaflose Nächte ersparen.

Manchen Universitäten reicht ein gutes Testergebnis für die Einschreibung - unter ihnen auch das bekannte Moskauer Ingenieur-Physikalische Institut. An vielen Fakultäten werden mündliche Prüfungen in russischer Sprache und Literatur verlangt - an der berühmten Moskauer MGU sogar an allen Fakultäten, um den Anspruch an Allgemeinbildung gerecht zu werden. Traditionell ist das Niveau in diesen beiden Fächern sehr hoch.

Die Neuerung stößt auf Kritik. An der Irkutsker Technischen Universität mit 24 000 Studenten lehnt Rektor Leonid Leonow dieses auf den ersten Blick demokratisch anmutende Konzept ab. Zwar gäbe es einige Vorteile. So würde die Willkür bei den Aufnahmeprüfungen geringer und jeder Bewerber könne bei der Fächerwahl seinen Neigungen folgen. Gefährdet sei indes die in der neuen Hochschulrahmenordnung von 1993 gewonnene Freiheit der Universitäten bei der Rekrutierung der Studenten: "Wir stimmen mit einigen weiterbildenden Schulen die Lehrpläne ab. Beginnend in der neunten Klasse erfolgt dort schon eine Spezialisierung, nach der elften die Einschreibung an der TU ohne Aufnahme-Examina", erklärt Leonow.

Alle Universitäten organisieren im Sommer, vor Beginn des Studienjahres am ersten September, eigene Aufnahmeprüfungen. Die Studenten heuern zur Vorbereitung Privatlehrer an, büffeln im Alleingang oder besuchen (kostenlose) zwei- bis viermonatige Vorbereitungskurse an der Uni ihrer Wahl. Im Schnitt kommen auf jeden Studienplatz zwischen 1,5 und fünf Bewerber. Es gibt aber auch Ausnahmen - so bewarben sich 1996 um jeden Juraplatz sogar durchschnittlich zehn Bewerber.

Um genau dieses Procedere gibt es seit Jahren immer wieder böses Blut. Denn an prestigereichen Universitäten sind Fälle von Korruption bekannt geworden, wie das renommierte Journal "Itogie" berichtet. Gegen sündhaft teure (bis zu 50 Dollar) "Nachhilfe"-Stunden bekommen Zöglinge betuchter Eltern, Einblick in die Liste möglicher Prüfungsthemen. An vielen Fakultäten denkt sich über Jahre ein und derselbe Dozent die Themen aus.

Deshalb hat die Moskauer MGU seit 1997 die Prüfungen im Rektorat zentralisiert. Jedes Jahr werden für die Ausarbeitung der Themen andere Dozenten beauftragt. Minuten vor Beginn der Examina holt Rektor Sadownischtji unter den Augen der Prüfungskommission die Umschläge aus seinem Safe und bringt sie zur eigens angeschafften Lottotrommel, wo die Auslosung stattfindet.

Das Zauberwort bei allen Prüfungen heißt "Schpargalka". Es handelt sich nicht um das russische Wort für eine bekannte Ballettübung oder das Gericht für Feinschmecker. Die Rede ist von Spickzetteln. Hier haben es die russischen Studiosi traditionsgemäß zu großem Können gebracht: Daumennagel groß sind bei manchen etwa Formeln und Antworten, die zuerst eingescannt und dann mit Mikroschrift ausgedruckt werden - im Hemdsärmel werden sie mit einer kleinen Klemme unter einer Leselupe befestigt.

Gegenüber den Aufnahmeprüfungen werden Alternativen diskutiert - etwa die Aufnahme aller Studierwilligen, die dann im ersten Kursjahr ähnlich wie in Deutschland in den technischen Fächern mit strengen Prüfungen ausgesiebt worden.

Das Gerangel um die Studienplätze wird kaum nachlassen. Obwohl das Niveau der Ausbildung insgesamt sinkt. Kein Wunder, seit 1997 stagniert der Anteil der Bildungsausgaben im Staatshaushalt bei knapp drei Prozent - von den 1999 vorgesehenen 9,2 Milliarden Rubel (derzeit etwa 600 Millionen Mark) werden voraussichtlich wie in den Vorjahren wegen der geringen Steuereinnahmen allenfalls 70 Prozent ausgeschüttet. Im Jahr 2000 wird die Statistik Genaueres hergeben. Seit 1996 erhalten die Unis aus dem Staatshaushalt Geld lediglich für Dozentengehälter und Stipendien. Für Lehrbücher, Ausbau und Reparatur der Gebäude gibt es keine Kopeke.

Volker Krampe

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