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Gesundheit: Nachteinsatz im Dentallabor

Auch bei der Zahnpflege herrscht Zeitmangel in Pflegeheimen. Mit ein bisschen Pulver im Wasserglas werden Gebisse nicht sauber. Aber gerade im Alter ist Mundhygiene wichtig für die allgemeine Gesundheit. Ein Modellprojekt schickt Helfer durch die Stadt

Zum Frühstück ist das Gebiss wieder da. Und das Modellprojekt „Saubere Dritte in der Pflege“ ist einen Schritt weitergekommen: Denn zurzeit verbringen die Vollprothesen von Bewohnern ausgewählter Berliner Altenpflegeeinrichtungen die Nächte in Dentallaboren. Dort werden sie von Zahnärzten begutachtet und professionell grundgereinigt – mit dem Einverständnis der Bewohner oder ihrer Betreuer. Am Morgen, wenn die Bewohner aufwachen, ist es, als seien ihre Zähne nie aus dem Wasserglas auf dem Nachttisch verschwunden gewesen.

Das Modellprojekt, das in allen Berliner Bezirken stattfindet, entstand auf Initiative einer Gruppe von qualitätsgeprüften Berliner Dentallaboren der Zahntechniker-Innung Berlin-Brandenburg. Gemeinsam mit der Zahnärztekammer Berlin und der Deutschen Gesellschaft für Alterszahnmedizin setzen sie es nun um. „Wenn Menschen pflegebedürftig werden, fällt meist zuerst die zahnmedizinische Versorgung hinten runter“, sagt Ina Nitschke, Professorin an der Poliklinik für zahnärztliche Prothetik und Werkstoffkunde am Universitätsklinikum Leipzig.

„Es gibt ein Recht auf saubere Zähne“, betont Reinhold Schott, Leiter eines Pflegedienstes, der unter anderem in der Wohnanlage Belvedere Angerburger Allee in Charlottenburg ambulante Dienstleistungen rund um die Uhr anbietet. Pflegebedürftigen Menschen, zum Beispiel den 27 000 Berlinern, die in stationären Pflegeeinrichtungen leben, wird dieses Recht seiner Erfahrung nach jedoch oft vorenthalten. Vor allem aus Zeitmangel: Bei Pflegestufe II sind sechs Minuten pro Tag für Mundpflege vorgesehen. Nach Ansicht des Zahnarztes Helmut Kesler, Mitglied des Vorstandes der Zahnärztekammer Berlin, reicht das bei Weitem nicht aus. Denn vielen Pflegebedürftigen fehlt mittlerweile das manuelle Geschick für die Mundpflege, andere sehen schlecht, haben den Geruchssinn teilweise eingebüßt oder sind aufgrund geistigen Abbaus nicht in der Lage, sich selbst darum zu kümmern. Und die Kombination von empfindlicher gewordenen Zähnen, Brücken und herausnehmbarem Zahnersatz machen die Pflege schwierig.

Doch sie ist wichtig – für den ganzen Menschen. „Die Zahl der Krankheitskeime im Mund beeinflusst allgemeine Erkrankungen“, sagt Ina Nitschke, die auch Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Altersmedizin ist. Die Fachgesellschaft fordert, dass die Prophylaxe nicht mehr nur für Heranwachsende Kassenleistung sein soll, sondern auch für Versicherte, die aufgrund körperlicher oder geistiger Einschränkungen selbst nicht dazu in der Lage sind. Kürzlich hat die Gesellschaft dazu ein Konzept vorgelegt.

Viele würden von der Veränderung profitieren: Der Deutschen Mundgesundheitsstudie aus dem Jahr 2005 zufolge tragen 21,3 Prozent der 65- bis 75-Jährigen heute eine Vollprothese in Ober- und Unterkiefer. Doch die Zahl der Menschen, die auch im höheren Alter noch viele eigene Zähne haben, ergänzt durch festen Zahnersatz wie Implantate und Brücken, nimmt zu. In der Sprechstunde des Zahnarztes spielen mit zunehmendem Alter der Patienten dann Probleme wie Zahnfleischentzündungen und Karies der Zahnwurzeln eine Rolle. 48 Prozent der über 65-Jährigen leiden unter einer mittelschweren Parodontitis.

„Das ist auch medizinisch von Bedeutung, denn Wundflächen im Mundraum bedeuten ein Infektionsrisiko für den Körper, so kann die Schleimhaut unter anderem durch Pilzinfektionen geschädigt werden. Außerdem wissen wir inzwischen, dass es Wechselwirkungen zwischen Zahnfleischentzündungen und großen Volkskrankheiten wie Diabetes mellitus oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen gibt“, sagt Zahnmedizinerin Nitschke.

Dazu kommt, dass viele der heutigen Hochbetagten, die in ihrem Leben schwere Zeiten durchgemacht haben, Schmerzen sehr lange tapfer aushalten. „Häufig werden Probleme der Mundgesundheit so lange ignoriert, bis in Notfallbehandlungen Zähne entfernt werden müssen“, sagt Ina Nitschke. Dann sei es oft zu spät, um Zahnersatz so gut anzupassen, dass sehr alte, mehrfach kranke Menschen sich daran gewöhnen können. Lebenswichtige Dinge wie ausgewogene Ernährung und sprachliche Kommunikation leiden darunter, wie Studien belegen.

Im Modellprojekt kümmern sich Zahnärzte und Zahntechniker dennoch zunächst nur um pflegebedürftige Senioren, die eine Vollprothese tragen. Denn alles auf einmal in Angriff zu nehmen, wäre unmöglich. „Viele aus dieser Altersgruppe kennen die professionelle Zahnreinigung noch nicht, die für Jüngere oft eine Selbstverständlichkeit ist“, sagt Nitschke. Viele meinten auch, mit den „Dritten“ sei man solche Sorgen los. Es genüge dann, Pülverchen oder Tabletten in einem Glas Wasser aufzulösen, das als nächtlicher Aufenthaltsort für das „Gebiss“ fungiert.

Doch auch an einer Vollprothese lagern sich Mineralien an, es bilden sich bakteriell besiedelte Beläge. Im schlimmsten Fall können Keime in die Lunge abwandern und dort eine Entzündung verursachen. Damit das nicht geschieht, empfehlen Experten, den Zahnersatz im Alltag nicht mit Zahnpasta, sondern mit PH-neutraler Seife und einer speziellen Bürste zu säubern. Zweimal im Jahr sollte professionell gereinigt werden. Die Zahntechniker, die im Modellprojekt tätig sind, setzen im Kampf gegen die Beläge auch Ultraschallgeräte und Polierautomaten ein. Bei dieser Gelegenheit kann sogar mit dem Mikroskop nach Schwachstellen gesucht werden, aus denen sonst Defekte werden könnten. Findet sich etwas, kann der Zahnarzt nach Absprache mit dem Patienten gleich die Reparatur in Auftrag geben.

„Mich hat das Projekt angesprochen, weil hier verschiedene Berufsgruppen im Team zusammenarbeiten“, sagt der Zahnarzt Sven-Anneus Ohling, der im Modellprojekt für die Einrichtung in der Angerburger Allee zuständig ist. Wie seine Kollegen in den anderen Bezirken macht er das bis Mitte September ehrenamtlich. Bis Ende September, zum jährlichen „Tag der Zahngesundheit“, sollen die Erfahrungen ausgewertet sein.

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