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Gesundheit: Nette Stunden auf Görings Wohnsitz

Reisen ins Reich: Was ausländische Beobachter in den Jahren 1933 bis 1945 in Deutschland erlebten

Als Martha Dodd im August 1933 zu Hitler geführt wird, glaubt sie in seinen Augen eine Mischung aus Schüchternheit, Sanftheit und grimmigem Wahn zu erkennen. Die amerikanische Diplomatentochter kam zu dem Urteil, dass der Führer vor allem eins brauche: eine Frau. In ihrem Buch „My Years in Germany“ veröffentlichte sie später die Eindrücke, die sie über das Dritte Reich gewann.

Was ausländische Autoren aus Deutschland im Nationalsozialismus berichten zeigt: Diese Periode ist noch immer nicht aus allen Blickwinkeln erforscht. Die soeben erschienene Anthologie „Reisen ins Reich. 1933-1945“ versammelt Stimmen von Schriftstellern, Journalisten, Studenten oder Angehörigen von Diplomaten, die mit dem geschärften Blick des Fremden ihre Eindrücke über das Reich notierten. Neben Martha Dodd finden sich bekannte Namen wie Samuel Beckett und Virginia Woolf. Viele von ihnen kamen unvoreingenommen, noch geprägt vom romantischen Blick auf das Deutschland Goethes und Heines.

Bald sahen sich die meisten zur Korrektur ihres Deutschlandbildes gezwungen. Nur wenige erhielten ihre Sympathien auch unter nationalsozialistischen Bedingungen aufrecht, wie der schwedische Weltensegler Sven Hedin, der „nette Stunden in Görings Wohnsitz“ verbringt oder der französische Romancier Jacques Chardonne, der die Menschen im Dritten Reich „auf dem Höhepunkt ihrer selbst leben sieht“.

Aus der Summe der Perspektiven ergibt sich eine fein gezeichnete und atmosphärisch dichte Charakterstudie des Reiches, die interessante kulturgeschichtliche Details zu Tage fördert: wie das Gespräch mit dem unbekannten Soldaten, das deutsche Mädchen für ein Honorar von zehn Pfennig führten.

Vor allem in der Vorkriegsphase kamen viele der Chronisten nicht mit dem festen Willen, eine akribische Zeitgeistdiagnose zu schreiben. Ihre Texte haben daher eine fast sommerliche Frische und Unbeschwertheit, in die plötzlich düstere Ereignisse hereinbrechen. Sie erfahren, wie sich die Brutalität des Nazi-Regimes steigert: Der freundliche deutsche Konversationspartner, verwandelt sich in mondäner Partystimmung unvermittelt in einen bellenden Ideologen. Eine junge Frau, die einen Juden liebt, wird geschoren und misshandelt der Öffentlichkeit preisgegeben.

Für die Beoachter legt sich über alle Eindrücke bald eine gespenstische Atmosphäre der Anspannung und des Unbehagens. Hinter der stählernen Fassade aus deutscher Willenskraft und unermesslichem Arbeitsvermögen ortet die dänische Schriftstellerin Karen Blixen mit tiefenpsychologischer Schärfe eine eigenartige Gehetztheit: Besinnungslos, ohne langfristige Perspektive, stürze das deutsche Volk voran.

Die Deutschen erscheinen dabei nicht durchweg mit negativen Attributen. Während des Krieges erkennt der Schweizer Meinrad Inglin neben dem nationalsozialistischen Deutschland noch „ein zum Schweigen verurteiltes anderes, besseres, humaneres Deutschland“. Die Deutschen hätten den Krieg in ihrer Mehrzahl nicht gewollt, geben auch die amerikanischen Korrespondenten Smith, Shirer und Flannery zu Protokoll. Sie wollten ihn immer weniger, je länger er dauerte. Aber die einpeitschenden Reden der Propagandamaschine ließen sie den Kampf bejubeln. Seit 1941, als sich die Propaganda leer gelaufen hatte, zeichnete sich ein Bild der Erosion und Müdigkeit ab.

Am Ende steigern sich die Berichte dieses lesenswerten Buches zu einem dramatischen Finale: Im Feuermeer des Endkampfes, in einer vor Rauch beißenden Atmosphäre entfaltet sich ein irgendwie funktionierendes Chaos und nicht zuletzt auch ein entfesseltes Triebleben auf den Trümmern von Berlin.

Reisen ins Reich. 1933 bis 1945. Ausländische Autoren berichten aus Deutschland. Herausgegeben von Oliver Lubrich. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2004. 431 Seiten. 30 Euro.

Thomas Thiel

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