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Gesundheit: Prognosen auf schwankendem Grund

Erdbeben lassen sich nicht vorhersagen, aber immerhin ist das Risiko für eine Region berechenbar

„Ein wenig geht es den Erdbebenforschern wie den Meteorologen“, sagt Jochen Zschau vom Geoforschungszentrum Potsdam mit Blick auf das katastrophale Beben nahe der iranischen Stadt Bam. Die Meteorologen können nicht exakt vorhersagen, ob es morgen regnet. Sie können nur angeben, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass es morgen regnet. Ähnlich kann heute auch niemand prognostizieren, wann an einem bestimmten Ort auf dem Globus die Erde beben wird. Die Erdbebenforscher wissen aber inzwischen, dass zum Beispiel Istanbul in den nächsten 30 Jahren mit einer Wahrscheinlichkeit von 60 Prozent von einem Beben der Stärke Sieben oder mehr verwüstet werden wird. Und das fordert die Politiker zum Handeln auf. Denn dank solcher Prognosen können sie in der Türkei oder auch im Iran Maßnahmen einleiten, um die Schäden in ihren Städten möglichst gering zu halten.

Aber auch die Behörden in Nordrhein-Westfalen sollten entsprechende Verordnungen und Gesetze erlassen. Denn dort wird die Erde in den nächsten 50 Jahren mit einer Wahrscheinlichkeit von zehn Prozent mit der Stärke von 5,5 oder mehr beben. Nun ist die Wahrscheinlichkeit für ein katastrophales Beben mit einer Stärke von 6,5 und mehr für die Stadt Köln zwar 200mal geringer als ein Beben der Stärke 7,0 in Istanbul. Diese Wahrscheinlichkeit aber enthält gleichzeitig ein Risiko, das bei keinem Kernkraftwerk akzeptiert würde.

Gerhard Berz von der Münchener Rückversicherungs-Gesellschaft kalkuliert die Schäden nach einem Beben der Stärke 6,7 am Niederrhein mit 90 Milliarden Euro. Das wäre ein Vielfaches der Kosten des Elbehochwassers im August 2002. Daher lohnt sich die Vorsorge: Zumindest sensible Bauwerke wie Krankenhäuser oder Brücken sollten in Köln und im ähnlich gefährdeten Aachen so gebaut werden, dass sie ein solches Beben ohne größere Schäden überstehen.

Die Erdbebenforscher gehen bei ihren Wahrscheinlichkeitsrechnungen erst einmal von der Geschichte aus: Wie oft und wie stark hat die Erde in der Vergangenheit gebebt? Einfach lässt sich selbst diese Frage nicht beantworten. So erschütterte zum Beispiel im Sommer 2002 ein Erdbeben der Stärke 5,1 die Gegend um Aachen. Aus der Geschichte sind zwar auch Erdbeben bis zur Stärke 6,0 in Deutschland bekannt – aber niemand weiß, ob das die Obergrenze ist.

Wissenschaftler können dies nur mit Hilfe der Paläoseismologie herausbekommen. Dazu graben sie in die Tiefe und untersuchen die Stellen, an denen verschiedene Erdschichten gegeneinander verschoben sind. Zu solchen Versetzungen kommt es normalerweise nur bei Erdbeben. Die Größe der Versetzung zeigt die Stärke des Erdbebens an. Eine erste Sondierung im benachbarten belgischen Raum brachte prompt ein Beben der Stärke 6,4 an den Tag, das vor 1300 Jahren die Gegend erschüttert haben muss.

In Regionen wie der Türkei, in denen Beben häufiger und stärker sind als am Niederrhein, lässt sich das Risiko besser kalkulieren. So gibt es unmittelbar im Süden der Millionenstadt Istanbul eine Zone, in der in den vergangenen 200 Jahren keine größere Erschütterung aufgetreten ist. Da aber in allen vergleichbaren Gebieten der Region die Erde in den letzten 100 Jahren kräftig gebebt hat, ist auch Istanbul gefährdet.

Als am 17. August 1999 die Stadt Izmit rund 80 Kilometer östlich von Istanbul von einem großen Beben der Stärke 7,4 stark beschädigt wurde, verstärkte dieses Ereignis die Spannungen bei Istanbul zusätzlich kräftig, zeigen Computer-Simulationen der Potsdamer Wissenschaftler. Dadurch verdoppelte sich die Wahrscheinlichkeit eines Bebens der Stärke 7,0 in der Millionenstadt während der nächsten 30 Jahre von 30 auf 60 Prozent. Diese Zahl gibt aber nur die Gefährdung an. Will man das Risiko kennen, muss man wissen, welche Schäden ein solches Beben anrichten kann und wie viele Menschen ihm zum Opfer fallen könnten.

Brian Tucker von der privaten Stiftung „Geo Hazard International“ im kalifornischen Palo Alto hat das Risiko kürzlich für 20 Ballungszentren auf dem Globus untersucht. In seiner Risikoliste nimmt Istanbul gleich hinter Katmandu Platz zwei ein. Tucker hat zudem ausgerechnet, welche Maßnahmen die Schäden verringern könnten – und Erstaunliches gefunden.

Würden in den nächsten 15 Jahren bei allen Neubauten in Istanbul die längst existierenden Bauvorschriften eingehalten, so würde ein starkes Beben ein Viertel weniger Todesopfer fordern als man zurzeit erwarten sollte. Verbessert man die Versorgung der Kranken und berücksichtigt dabei auch noch die schwierige Situation nach einer Katastrophe, sollten 20 Prozent weniger Tote registriert werden. Und würde man nur die fünf Prozent der Gebäude mit dem schlechtesten Bauzustand in Istanbul sanieren, sollten es 15 Prozent weniger Todesopfer sein.

Setzt man dann auch noch Frühwarnsysteme ein, um Maßnahmen nach einem bereits stattgefundenen Beben einzuleiten, lassen sich weitere Menschenleben retten. Mexico City wird zum Beispiel typischerweise von Erdbeben getroffen, die in einiger Entfernung entstehen. Die ersten Wellen erreichen die zentralamerikanische Metropole daher erst 90 Sekunden nach Beginn des Bebens. Registriert ein Vorwarnsystem ein solches Beben, bleibt für eine Automatik Zeit genug, U-Bahnen im nächsten Bahnhof zu stoppen oder den Druck in den Gasleitungen zu verringern. Kraftwerke können abgeschaltet, Brücken gesperrt werden, Rundfunksendungen die Menschen warnen.

Für die Menschen in Bam, die im Schlaf vom Beben überrascht wurden, kommen all diese Überlegungen zu spät. Aber auch in dieser erdbebengefährdeten Region könnte eine bessere Vorsorge zumindest in Zukunft helfen, das Ausmaß von Naturkatastrophen einzudämmen.

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