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Gesundheit: Reformstau – auch im Labor

Bürokratie, Desinteresse, Misstrauen: Neurowissenschaftler fürchten, dass junge Forscher hierzulande kaum noch Chancen haben

Die Einladung klang ganz unverfänglich. Man wolle mit der Presse über die „Situation des neurowissenschaftlichen Nachwuchses in Deutschland“ diskutieren, hieß es. Was bei dem von der Hertie-Stiftung angeregten Gespräch herauskam, war jedoch eine Generalabrechnung mit dem hiesigen Wissenschaftsstandort. Schonungslos kritisierten die versammelten Spitzenforscher und Wissenschaftsmanager, was sie als Hindernisse für ihre Arbeit ansehen. Und man darf annehmen, dass die Vertreter anderer Disziplinen ähnlich urteilen würden.

Da ist zunächst die Mentalität. „Forschung macht in Deutschland zu wenig Spaß“, sagte der Neurologe Johannes Dichgans von der Universität Tübingen. „Wir haben eine wissenschaftskritische und ängstliche Öffentlichkeit“, bemängelte Dichgans, zugleich Vizepräsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Eine „tiefe Skepsis gegenüber dem Wissenwollen, dem experimentellen Ergründen der Wirklichkeit“ attestierte Wolf Singer vom Frankfurter Max-Planck-Institut für Hirnforschung der deutschen Öffentlichkeit. Das beginne bereits in der Schule. Es sei „erschreckend“, wie wenig begeistert die Lehrer seien und wie wenig sie von den naturwissenschaftlichen Zusammenhängen verstünden, berichtete Singer von Lehrerseminaren an seinem Institut. „Es herrschen Leistungs- und Elitefeindlichkeit“, sekundierte ihm der Neurologe Dichgans. „Da macht es schon in der Schule keinen Spaß, sich für Naturwissenschaften zu engagieren.“

Für den Hirnforscher Singer ist „Neugier ein Wert an sich“. Denn „nichts ist wichtiger, als Wissen an die nächste Generation weiterzugeben“.

Die geringe Wertschätzung ihrer Arbeit ist aber für die Hirnforscher nur die eine Seite der Medaille. Hinzu kommt, was man Strukturmängel im deutschen Wissenschaftssystem nennen könnte. Zu träge, zu unbeweglich, zu wenig qualitätsorientiert, lautet das Urteil. Und stets gibt es ein Land, in dem alles besser scheint, einen Ort der Verheißung und des Wissenschaftlerglücks: die USA.

„Die Universitäten sind das Rückgrat des Wissenschaftssystems – aber das leidet unter Osteoporose“, formulierte Karl Einhäupl, Neurologe an der Berliner Charité und Vorsitzender des Wissenschaftsrats. Geldmangel habe zu einem Investitionsstau geführt, nun sei die Substanz der Hochschulen in Gefahr.

Dementsprechend schwierig ist die Lage für den wissenschaftlichen Nachwuchs. „Die jungen Wissenschaftler arbeiten zu unselbstständig“, urteilte Singer. Der große Sprung in die Eigenverantwortung erfolge, wenn überhaupt, zu spät – nämlich bei der Berufung zum Professor. Aber nicht jeder Forscher kann Professor werden, und für die vielen, für die es keine Stellen gibt, werden die Alternativen rar. Denn die Pharmaindustrie als wichtiger Arbeitgeber orientiert sich zunehmend nach – na, wohin schon? – Amerika.

Hinzu kommen bürokratische Hürden, wie die Auflage aus dem Hochschulrahmengesetz, nach dem künftig Wissenschaftler nicht länger als zwölf Jahre befristet beschäftigt sein dürfen. Für den Neurowissenschaftler Helmut Kettenmann vom Berliner Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin ist diese Regelung ein Alptraum. In seinen Augen verbaut sie vielen jungen Forschern die Zukunft. „Nach zwölf Jahren fällt der Hammer“, sagt Kettenmann. Er prophezeit einen Mangel an qualifizierten jungen Leuten in der Forschung. Sie würden keine Perspektive mehr im Labor sehen.

Gerade die Jungen sind es aber, die die eigentliche Forschung machen. Auch der neu eingeführte Juniorprofessor kann sie nicht ersetzen, denn der ist bereits mit Lehrverpflichtungen und Organisationsaufgaben absorbiert. Den „brain drain“, den Verlust an intellektueller Kapazität ins Ausland, sieht Kettenmann schon heute: „Von meinen 20 Doktoranden sind sieben in die Staaten gegangen. Keiner ist zurückgekommen.“

Die Wissenschaftler fordern deshalb einen Tarifvertrag, der den Bedingungen ihres Berufs Rechnung trägt. Mit dem es zum Beispiel möglich ist, Forscher auch nach zwölf Jahren noch zu beschäftigen. Oder Leistung stärker zu berücksichtigen. Überhaupt, die Leistung: „Ein Professor, der nicht forscht, kann seine Stelle behalten. Aber alles andere sollte man ihm wegnehmen“, forderte der Neurologe Einhäupl.

Und warum ist es nicht möglich, der Wissenschaft einen eigenen Tarifvertrag zu geben? Das sei das Bohren „extrem dicker Bretter“, klagte Einhäupl. Ministerien und Gewerkschaften blockierten. Er warnte zugleich davor, sich nur in einer „Kultur des Jammerns“ zu verlieren. „Die Neurowissenschaft gehört zu den Gebieten, auf denen wir gut sind. Was uns fehlt, sind Elite-Universitäten, Schrittmacher für die anderen Hochschulen.“

Einhäupls vorsichtiger Optimismus erntete Widerspruch. Der Neurologe Dichgans sagte, man könne mit der Forschungsqualität in den USA nicht mithalten, und der Hirnforscher Singer prophezeite eine dramatische Verschlechterung in den nächsten zehn Jahren. „Auch wenn man ein paar Überflieger nicht verhindern kann“, wie er sarkastisch anmerkte.

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