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Gesundheit: Schlechte Zeiten für schlechte Noten

Schüler dürfen in den USA schwache Schulen verlassen / Streit um Gutscheine, die Armen den Zugang zu Privatschulen eröffnen sollen

Sherman Alexie ist hin- und hergerissen. „Ich hasse school vouchers“, bekennt der bekannte Schriftsteller. Und dass es „verfassungsmäßig falsch ist, öffentliche Gelder an Kinder zu verteilen – üblicherweise arme Kinder, die miese öffentliche Schulen besuchen – damit sie ihre Schulbildung an privaten Schulen bezahlen können – inklusive religiöser Schulen.“ Andererseits: wird er selbst (katholisch, inzwischen wohlhabend und erfolgreich) seine Söhne nicht auch auf Privatschulen schicken, wenn die öffentlichen Schulen versagen? Alexie selbst hat als Jugendlicher ja auch die miserable Highschool des Indianerreservats verlassen, weil sie ihm niemals Studium und Erfolg ermöglicht hätte. „Wie kann ich als Erwachsener ein Programm ablehnen, von dem ich als Jugendlicher selbst liebend gerne profitiert hätte?“, räumt der Schriftsteller ein.

Die sogenannten Schulgutscheine (school vouchers) erhitzen die Gemüter in der endlosen Debatte über das öffentliche Schulsystem in den USA. Es gehört zu dem groß angelegten Programm „No-child-left-behind“, mit dem die Bush-Regierung nach eigener Aussage die Ausbildung an staatlichen Schulen verbessern will. Mit Hilfe standardisierter Tests werden schon seit einigen Jahren alle Schulen des Landes auf ihre Effizienz hin überprüft. Für gute Ergebnisse in den nationalen Tests erhalten private wie öffentliche Schulen Prämien von 100 Dollar pro Schüler. Wer aber zu viele Schüler hervorbringt, die nicht gut genug lesen oder rechnen können, bekommt die Bewertung „F“ für „failed“, wie durchgefallen. Eine solche Schule bekommt zwar im Folgejahr besondere finanzielle Unterstützung von der Bundesregierung, sozusagen als zweite Chance. Schneidet sie aber dann beim nächsten Test erneut schlecht ab, haben ihre Schüler das Recht, auf eine andere Schule ihrer Wahl zu wechseln. Diese kann staatlich, privat oder religiös sein. Gutscheine, auch „opportunity scholarships“ genannt, von bis zu 4000 Dollar sollen dabei auch den Kindern aus ärmeren Verhältnissen den Besuch einer Privatschule mit Schulgebühren ermöglichen.

Ein Segen für religiöse Schulen

Das erste nach diesem Prinzip arbeitende Programm startete im Schuljahr 1999/2000 in Florida unter der Ägide von Governeur Jeb Bush, dem Bruder des amtierenden Präsidenten. Mit diesen „school vouchers“, so die Regierung, eröffne man jedem amerikanischen Kind das Recht auf eine anständige Ausbildung und seinen Eltern das Recht auf eine freie Schulwahl – während die Plätze an öffentlichen Schulen üblicherweise vom zuständigen Schuldistrikt zugeteilt werden. Die Schulen würden durch den Wettbewerb untereinander gezwungen, bessere Ergebnisse zu erzielen, weil ihnen ansonsten die Schüler verloren gehen.

Die großen amerikanischen Tugenden, Freiheit und marktwirtschaftlicher Wettbewerb, dominieren die Argumentation der konservativen „school choice“-Befürworter. Präsident Bush verspricht sowohl eine Verbesserung des Schulsystem als auch, dass garantiert kein Kind zurückgelassen wird. „Diese Reformen drücken mein tiefes Vertrauen in unsere öffentlichen Schulen aus“, behauptet der Präsident. Gegner der neuen Schulpolitik befürchten das Gegenteil: Sie sehen in der school choice-Bewegung eine weitere Schwächung des gebührenfreien, öffentlichen Schulsystems zugunsten der teuren Privatschulen – und das auf Kosten der Steuerzahler. Bob Chase, Präsident der National Education Association, einem Zusammenschluss von Angestellten im öffentlichen Bildungssektor, nennt die school voucher von Florida die „größte Umleitung öffentlicher Gelder von öffentlichen Schulen“ in den Vereinigten Staaten. Das Programm verschaffe den Privatschulen noch mehr Zulauf und überlasse die ohnehin schwächeren öffentlichen Schulen ihrem Schicksal. Das Programm „sagt den Eltern und Gemeinden: Wenn Schulen Schwierigkeiten haben, verlasst sie einfach“, so Chase. Um die Ausbildung an staatlichen Schulen tatsächlich zu verbessern, sollte man statt dessen die Klassen verkleinern, die Lehrerausbildung verbessern und die Schulen mit neuen Technologien ausstatten.

Schon jetzt besucht jedes zehnte amerikanische Kind eine nicht-staatliche Schule. Durch staatlich finanzierte Schulgutscheine finanzieren die Eltern, deren Kinder öffentliche – und damit meist schlechtere – Schulen besuchen, diejenigen mit, die auf die privaten Eliteschulen ausweichen. Viele, darunter einige der angesehensten Privatschulen in den Vereinigten Staaten, sind außerdem religiöse Institutionen. Reformgegner befürchten daher, dass durch das Regierungsprogramm die verfassungsmäßige Trennung von Staat und Kirche unterwandert wird. Zwar verbietet der Staat Florida, dass Schüler gezwungen werden, bestimmte Dinge „zu glauben, zu beten oder anzubeten“. Private Schulen dürfen aber religiöse Aktivitäten, wie die Unterweisung in religiösen Inhalten und Praktiken oder die Teilnahme an Gottesdiensten und Gebeten vorschreiben, so die Kritik der Voucher-Gegner. Wie in den meisten anderen Bundesstaaten bilden auch in Florida religiöse Institute die überwiegende Mehrheit unter den Privatschulen. Mindestens 80 Prozent der Schüler, die für das opportunity-scholarship-Programm in Frage kommen, besuchten im Schuljahr 1998/1999 sogenannte secretarian schools, an religiöse Gemeinschaften gebundene Schulen, so die Einschätzung unabhängiger Nichtregierungsorganisationen. Die American Civil Liberties Union (ACLU) von Florida sieht darin einen klaren Verfassungsbruch, denn „das bedeutet einen Transfer von Steuergeldern an Privatschulen, die in der Mehrzahl religiöse Schulen sind“.

In einer Aufsehen erregenden 5-zu-4-Entscheidung erklärte der US-Supreme Court vor einem Jahr ein school voucher Programm der Stadt Cleveland, Ohio, für verfassungskonform. Der oberste Gerichtshof des Landes revidierte damit ein Urteil niedrigerer Instanz. Fast alle Schüler mit staatlich finanziertem Stipendium besuchten katholische Schulen. Da den Eltern aber ausreichend Wahlmöglichkeiten zwischen religiösen und nicht-religiösen Schulen zur Verfügung stünden, so der Supreme Court, verstoße das Programm nicht gegen den ersten Verfassungszusatz zur Religionsfreiheit.

Steuergelder für Privatschulen

Die Fronten innerhalb wie außerhalb des Supreme Court waren klar politisch verteilt: Konservative Reformbefürworter feierten die Entscheidung als „Sieg für das amerikanische Erziehungswesen ebenso wie für Schüler und Eltern mit geringem Einkommen“, ja sogar als „die wichtigste Entscheidung seit der Abschaffung der Rassentrennung“, so Clint Bolick, Angestellter des Justizministeriums. „Das war der Super Bowl für Kinder, und die Kinder haben gewonnen“, sagte er in einem Interview. Richter David Souter hielt dagegen, dass es keinen Grund gibt, Steuergelder für religiöse Zwecke auszugeben, selbst wenn staatliche Schulen scheitern. „Öffentliche Steuergelder werden systematisch finanzieren, dass der Gottesbund und das Mosaische Gesetz in jüdischen Schulen gelehrt wird, das Primat des Apostels Paulus und des Papsttums in katholischen Schulen, die Wahrheit reformierten Christentums in protestantischen und die Verheißungen des Propheten in muslimischen Schulen, um nur die wichtigsten religiösen Gruppen zu nennen“, sagte er. Präsident Bush bejubelte den Beschluss uneingeschränkt als „Sieg für die amerikanische Familie“.

Das Supreme Court-Urteil liefert nicht nur den bestehenden Programmen eine willkommene Rückendeckung, sondern ebnet vielen weiteren den Weg. „Die nächsten acht Staaten auf unserer Liste sind Minnesota, Colorado, Texas, Arizona, Indiana, Virginia, Alabama und Utah“, sagte John Kramer, der Sprecher des Institutes for Justice, einer Forschungsabteilung des Justizministeriums.

Auch Sherman Alexies Heimatstaat Washington erwägt die Einführung von school vouchern. Auch hier sind die besten privaten Schulen katholisch. Und trotz aller Bedenken fragt er sich: „Wie viele meiner Reservats-Freunde wollten die Schule wechseln und konnten nicht – aus finanziellen und emotionalen Gründen? Hätten Schulgutscheine ihnen vielleicht das Geld und den Mut dazu gegeben?“

Sonja Bonin[Seattle]

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