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Gesundheit: Schmerz lass nach

Ärzte und Patienten bekämpfen Migräne oder Rückenbeschwerden oft nicht mit adäquaten Mitteln – die Folge: Das Leiden kann chronisch werden

„Die Patienten haben das Gefühl der absoluten Hilflosigkeit. Sie glauben: Schmerz ist Schicksal, Schmerz muss man aushalten, weil sie nirgends die richtige Hilfe erhalten, denn auch die Ärzte fühlen sich oft hilflos“, sagt Marianne Koch. Die Ärztin und Medizinjournalistin ist Präsidentin der „Deutschen Schmerzliga“. Sie kennt die Klagen chronisch Schmerzkranker, die verzweifelt und vergeblich von Arzt zu Arzt und von Klinik zu Klinik laufen.

Drei Beispiele für Leiden, die bei mehr Sachkunde nicht sein müssten:

Wer bei gelegentlichen Kopfschmerzen länger als ein paar Tage nacheinander Schmerzmittel einnimmt, womöglich in immer höherer Dosis und als Kombinationspräparate, der kann dadurch seinen Zustand verschlimmern – bis hin zum Dauerkopfschmerz, mit dem man morgens schon aufwacht.

Noch öfter gehen Patienten und Ärzte falsch mit Rückenschmerzen um. Die haben in 85 Prozent der Fälle keine erkennbare Ursache wie zum Beispiel Wirbelgleiten, Bandscheibenschäden oder Wirbelkörperbrüche, aber eine gute Selbstheilungstendenz. Bei vier von fünf Betroffenen verschwinden solche unspezifischen Rückenschmerzen von allein. Es sei denn, man bleibt länger als höchstens ein bis zwei Tage im Bett, lässt sich krankschreiben und schont sich in jeder Hinsicht. Dann wird der Kreuzschmerz oft chronisch. „Mit solchen Rückenschmerzen muss man sich bewegen, aber vorher Schmerzmittel nehmen“, rät Marianne Koch.

Das dritte Beispiel geht vor allem die Ärzte an: Zur Linderung des Krebsschmerzes gibt es eine wirksame Strategie. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat sie schon 1986 veröffentlicht und seither ständig propagiert (siehe Kasten). Aber eine repräsentative Befragung ergab, dass bei uns nur jeder dritte Mediziner sie kennt. Selbst unter den Ärzten mit einer Zusatzbezeichnung für Schmerztherapie, die Krebskranke behandeln, war es nur jeder Zweite – ein Skandal.

Um die Situation vieler fehl- oder unterbehandelter chronisch Schmerzkranker allmählich zu verbessern, haben jetzt die beiden großen schmerzmedizinischen Gesellschaften Deutschlands ihre Kräfte gebündelt und eine „Koalition gegen den Schmerz“ gebildet. Die Präsidenten Michael Zenz von der „Deutschen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes“ und Gerhard Müller-Schwefe vom „Schmerztherapeutischen Kolloquium – Deutsche Gesellschaft für Schmerztherapie“ gaben in Berlin die wichtigsten Ziele des Zusammenschlusses und des geplanten Aktionsprogramms bekannt.

An erster Stelle steht die Ausbildung aller Ärzte in der Schmerzmedizin. Mindestens jeder vierte Patient kommt wegen lang anhaltender Schmerzen zum Arzt, sagte Zenz mit Hinweis auf eine Bochumer Studie. Und nach der vom Robert-Koch-Institut herausgegebenen Broschüre „Chronische Schmerzen“ leiden in Deutschland etwa fünf bis acht Millionen Menschen darunter.

Nach Schätzungen der Spezialisten sind es noch viel mehr. Aber: „Es werden Ärzte auf die Menschheit losgelassen, die keine Ahnung von Schmerztherapie haben“, sagte Müller-Schwefe. Viele scheuen zum Beispiel aus Unkenntnis immer noch vor den wirksamsten Schmerzmitteln, den Opioiden, zurück. Und zwei von drei Medizinern haben nicht einmal die nötigen Rezeptformulare dafür. Selbst in manchen Krankenhäusern werden Frischoperierte mit drei Mal 30 Tropfen Novalgin abgespeist, als hätten sie nur Kopfschmerzen, kritisierte Müller-Schwefe. Aber nicht oder unzulänglich behandelte akute Schmerzen können chronisch werden, weil sie sich gleichsam ins Nervensystem einbrennen. Die Nervenzellen werden auf Schmerzen programmiert, es bildet sich ein „Schmerzgedächtnis“, der Schmerz, eigentlich ein Symptom und Warnsignal, verselbstständigt sich zur „Schmerzkrankheit“, und manchem Betroffenen kann schon die leiseste Berührung wehtun.

Darüber sind viele Ärzte nicht informiert. Und das kann noch schlimmer werden, fürchtet Zenz: Bisher gehörte die Schmerztherapie ins ärztliche Staatsexamen. Nach der vom 1. Oktober an geltenden, ohnehin verwässerten „neuen“ Approbationsordnung ist sie dort nicht mehr verankert und ist auch kein Pflichtfach. In unserer Gesundheitsversorgung werden die Schmerzpatienten ebenfalls vernachlässigt.

Weder Migräne noch Krebs-, Rücken- oder Phantomschmerz gehören zu den Leiden, für deren Behandlung die Kliniken künftig eine Fallpauschale bekommen, kritisierte Zenz. Und unter den ambulanten Leistungen für gesetzlich Versicherte kommt die Schmerztherapie ebenfalls so gut wie nicht vor. Die „Koalition gegen den Schmerz“ setzt sich dafür ein, Schmerzmediziner besser in den Versorgungsstrukturen zu verankern, um Leiden zu lindern und der Chronifizierung vorzubeugen. Zur Behandlung von Patienten mit problematischen Schmerzzuständen – schätzungsweise ein bis zwei Millionen – fordert sie die Schaffung eines „Facharztes für Schmerztherapie“ und genügend interdisziplinäre Spezialeinrichtungen.

Zurzeit gibt es nur etwa 500 Praxen und Klinikambulanzen, die auf Schmerzbehandlung spezialisiert sind. Manche haben Wartezeiten von bis zu einem Jahr. Viele Patienten sind vorher acht bis zehn Jahre lang von zahllosen Ärzten vergeblich behandelt worden. Das zermürbt – bis zur Persönlichkeitsveränderung. Und es kostet Volkswirtschaft und Gesundheitswesen Unsummen. Allein der Rückenschmerz kostet nach Schätzung des Robert-Koch-Instituts und des Statistischen Bundesamtes jährlich mindestens 15 Milliarden Euro. Vielleicht beeindruckt wenigstens das die verantwortlichen Politiker.

Information und Adressen: Deutsche Schmerzliga, Adenauerallee 18, 61440 Oberursel; Telefon: 07 00 / 375 375375.

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