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Gesundheit: Soljanka zum „Roten Oktober“

Die Genossen Erich & Walter wären entzückt: Ihr Arbeiter- und Bauernstaat lebt heimlich, still und leise fort. Er ist nur vorübergehend untergetaucht und hat in der „Tagung" Asyl gefunden.

Die Genossen Erich & Walter wären entzückt: Ihr Arbeiter- und Bauernstaat lebt heimlich, still und leise fort. Er ist nur vorübergehend untergetaucht und hat in der „Tagung" Asyl gefunden. Doch die nächste sozialistische Revolution wird kommen, so viel ist sicher. Als Studenten getarnte Jungpioniere hecken die Rückeroberung der kapitalistischen Coca-Cola-Welt aus, gestärkt von Karo-Zigaretten, Russisch Brot und VEB-charmanter Heimeligkeit.

Fremdlinge, die den geheimen Code nicht beherrschen, werden sofort enttarnt und beschattet. „Ihr seid woll ditt erste Mal da", stellt die Blondine mit Kurzhaarschnitt fest, mit welcher wir eine Produktionsmaschine Chemnitzer Herkunft teilen, die ihr zweites Leben als Tisch fristet. Selbst eine Vopo-Uniform hätte unsere Identität nicht verschleiern können. Wir bestellen, aus gesinnungstreuer Loyalität zu den sozialistischen Brüdern und Schwestern, Soljanka, Bockwurst, bulgarischen Rotwein und ein Flaschenbier Marke „Roter Oktober". Allein, im Essensangebot herrscht Konsum-Knappheit (Konsum mit Betonung auf der ersten Silbe) und, welch Pech, des „Trinkers Frohe Stund" ist gerade vorbei.

Die Soljanka wird im Nachbarrestaurant geköchelt und kommt aus weißen Plaste- und Elasteeimern in rumänisches Essgeschirr, dann in die Mikrowelle. Die Bockwurst kommt wer-weiß-woher und mit scharfem Senf aus Bautzen. Sie hat wohl einen langen Weg hinter sich und guckt etwas verschrumpelt. Der bulgarische Kadarka ist so „lieblich", wie er in der Karte steht, man kann also kaum behaupten, nicht gewarnt worden zu sein. In der Soljanka dümpelt Jagdwurst, was der Fleischlosglücklichen nicht schmeckt. „Ditt lebt doch janich mehr", beruhigt die blonde Stammkundin, die sich mittlerweile als Pauline vorgestellt hat, die in der Suppe Quirlende. Dem Begleiter schmeckt sie umso besser.

Einige „Rote Oktober" und eine blaue Lagune ns „Vorwärts" (Curaçao, Gin und Rum) weiter wird aus Pauline schon Pauli und aus ihrem Begleiter Bernd „der Berti". Wir reden über Chruschtschow, Ferienlager, sozialistische Produktionslehre und Pinkeln im Grenzgebiet. Dabei qualmt Pauli elf „West"-Zigaretten und durch gemeinschaftliches Ausfüllen zahlreicher bunter Zettel ergattern wir einen Jahresvorrat herrlicher Sturmfeuerzeuge von einem großzügigen Sponsor der Zigarettenindustrie (Ost). Besonders beim Angeln seien sie sehr zu empfehlen, meint Berti. Wir geben ein Feuerzeug der traurigen russischen Sängerin mit der Gitarre. Und bestellen noch einen „Vorwärts" und einen „Dynamo" dazu, während uns Erich & Walter über die Schulter schielen und Lenin sich eine Träne verkneift. Frei nach dem guten alten sozialistischen Motto „Zur Sonne, zur Theke, zur Freiheit". Juliane von Mittelstaedt

„Die Tagung“: Wühlischstraße 29,

10245 Berlin (Friedrichshain),

Tel.: 292 87 56, täglich ab 19 Uhr.

Preise: Bier (0,5 l) ab 2 Euro 30; „Trinkers Frohe Stund" von 19 - 21 Uhr: 2,-; Wein (0,2 l) ab 2 Euro 50; Soljanka, Bockwurst, Russisch Brot: alles unter 3,-; Cocktails ab 5 Euro

STUDENTENFUTTER

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