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Gesundheit: Ur-Menschen: Der verschwundene Nachbar

An einem Augusttag des Jahres 1856 stoßen Steinbrucharbeiter beim Ausräumen der Feldhofer Grotte im Neandertal östlich von Düsseldorf auf mehr als ein Dutzend seltsamer Knochen, die sie für die eines Höhlenbären halten. Die Knochen - neben Oberarm und Becken auch Teile des Schädels - gelangen in die Hände des Gymnasial- und Naturkundelehrers Johann Carl Fuhlrott.

An einem Augusttag des Jahres 1856 stoßen Steinbrucharbeiter beim Ausräumen der Feldhofer Grotte im Neandertal östlich von Düsseldorf auf mehr als ein Dutzend seltsamer Knochen, die sie für die eines Höhlenbären halten. Die Knochen - neben Oberarm und Becken auch Teile des Schädels - gelangen in die Hände des Gymnasial- und Naturkundelehrers Johann Carl Fuhlrott. Dem fällt sofort das eigenartig breite, flache Schädeldach mit den starken Wülsten über den Augen auf: Fuhlrott hält die Knochen für Überreste eines Ur-Menschen.

Drei Jahre vor der Veröffentlichung von Charles Darwins epochalem Werk "On the origin of species" über Abstammung und Evolution sorgt der Fund für Furore. Und für die erste einer langen Reihe fataler Fehlinterpretationen um unseren vermeintlichen Vorfahren. So erklärte der Bonner Anatom Franz Joseph Carl Meyer, dass im Neandertal "ein verwahrloster, verwilderter, verkrüppelter Mensch, eine Art wilder Peter" einen elenden Tod gefunden habe.

Die Affenfrage

Der Berliner Anatom Rudolf Virchow, der als ebenso brilliant wie starrköpfig galt und in der "Affenfrage" zeitlebens auf das falsche Pferd setzte, hielt den Neandertaler für einen Zeitgenossen, der an Rachitis erkrankt sei. Dem Begründer der wissenschaftlichen Pathologie unterlief damit eines der größten Fehlurteile in der Geschichte der Paläoanthropologie. Fuhlrott und Virchow begannen eine Debatte um den mysteriösen Urmenschen, die bis heute anhält.

Nach wie vor erregt der Neandertaler die Gemüter und spaltet die Fachwelt. Umstritten ist vor allem, ob er eine eigene Art Homo neanderthalensis ist und warum er vor 30 000 Jahren verschwand. Kam es zu Vermischungen mit dem nach Europa einwandernden Jetztmenschen Homo sapiens sapiens? Oder verdrängte der ihn gewaltsam?

Zwei Bücher tragen die neuesten Antworten zum Streit um unsere angeblichen Ahnen zusammen. Der amerikanische Paläoanthropologe Ian Tattersall diskutiert in dem reich illustrierten Band "Neandertaler. Der Streit um unsere Ahnen" (Birkhäuser Verlag, 216 Seiten; 68 Mark) sachkundig, warum H. neanderthalensis so andersartig war, dass er den Status einer eigenen Art verdient. Ralf Schmitz und Jürgen Thissen ("Neandertaler. Die Geschichte geht weiter". Spektrum Akademischer Verlag, 327 Seiten; 49,80 DM) beschäftigen sich mit neuen, Aufsehen erregenden Knochenfunden an der Ausgrabungsstelle im Neandertal.

Der Nachwelt geben die Neandertaler vor allem deswegen Rätsel auf, weil sie das eiszeitliche Europa lange vor dem Auftauchen des modernen Menschen bevölkerten. Dann aber verschwanden sie beinahe so spurlos wie das "h" aus dem namensgebenden Tal der Düssel. Je mehr sich die Neuankömmlinge - aus der afrikanischen Wiege der Menschheit kommend - in Europa breit machten, desto mehr drängten sie den Neandertaler zurück. Ist das Verschwinden des Homo neanderthalensis Zeichen seiner Untüchtigkeit? War der Neandertaler ein Auslaufmodell?

Noch immer ist die Neandertaler-Forschung in erster Linie ein Kriminalfall mit lückenhaften Indizien. Eines dieser Indizien verschaffte dem Neandertaler vor drei Jahren sogar die Schlagzeile auf der Titelseite der angesehenen "New York Times". Damals meinten der Molekulargenetiker Svante Pääbo, heute Direktor des Max-Planck-Instituts für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig, und sein Doktorand Matthias Krings den Neandertaler endgültig aus dem Stammbaum des Homo sapiens verbannen zu können. Sie hatten aus dem rechten Oberarmknochen des Typusexemplars von 1856 Reste des Neandertaler-Erbgutes gewonnen.

Der molekulargenetische Vergleich mit dem heutigen Menschen ergab erhebliche Unterschiede. Daraus schlossen die Forscher, dass die Neandertaler ausstarben, ohne Gene an den modernen Menschen weitergegeben zu haben. Vermutlich bereits vor gut 600 000 Jahren hätten sich die Entwicklungswege von Neandertalern und modernen Menschen getrennt. Mit der DNS-Studie wurde der Neandertaler - im doppelten Sinn - zum entfernten Verwandten.

Hinterließ der Neandertaler der Nachwelt nur Knochen und Faustkeile und nahm seine Gene mit ins Grab? Für Anhänger der "Out of Africa"-Theorie stand schon lange fest, dass die heutigen Europäer nicht vom durch die Eiszeiten geprägten Neandertaler abstammen, sondern von grazileren afrikanischen Menschen, die ihn verdrängten. Doch so unbestritten glanzvoll der einmalige Glücksfall einer Analyse von längst verloren geglaubter Erbsubstanz eines Neandertalers in wissenschaftlicher Hinsicht auch ist - der Neandertaler ist damit keineswegs aus unserer Ahnengalerie verbannt, wie Krings und Pääbo einst meinten.

Das Fazit der jüngsten Befunde lautet: Der anatomisch moderne Mensch und der Neandertaler haben über mehrere zehntausend Jahre eng nebeneinander, vielleicht sogar miteinander gelebt. Im Nahen Osten etwa koexistierten beide Menschenformen über mehr als 50 000 Jahre und pflegten einen ähnlichen Lebensstil. Fossilfunde in Spanien zeigen, dass Homo sapiens dort etwa 10 000 Jahre vor dem Verschwinden des Neandertalers angekommen war. Andere Ausgrabungen deuten darauf hin, dass beide Menschenformen sich vermutlich miteinander vermischten, während viele Forscher bislang davon ausgegangen waren, dass Neandertaler mit dem modernen Menschen keine fruchtbaren Nachkommen zeugen konnten.

Auch die These, dass der stämmige Neandertaler vom Homo sapiens immer mehr in abseitige Reliktlebensräume verdrängt wurde, lässt sich nicht mehr halten. Im kroatischen Vindija, mitten im Zentrum ihres Verbreitungsgebietes, wurde ein zuverlässig auf ein Alter von 28 000 Jahren datierter Neandertaler geborgen. Zuvor waren so junge Funde nur von den Rändern Europas, Südspanien und der Krimhalbinsel her bekannt.

Einige Forscher nehmen deshalb an, dass der Homo sapiens keineswegs den Neandertaler auf dem Gewissen hat. Vielmehr habe der sich in Europa über viele Jahrtausende hinweg durch Verschmelzung mit den Genen seines südlichen Nachbarn zu jenem schlanken Wesen mit modernen menschlichen Zügen entwickelt.

Rasanter kultureller Wandel

Die lange favorisierten einfachen Modelle zur Menschwerdung werden den komplexen Zusammenhängen und Vorgängen im Europa zwischen 50 000 und 30 000 Jahren nicht gerecht. Denn aus den Funden lässt sich auch der Beginn eines rasanten kulturellen Wandels bereits beim Neandertaler ablesen. Immer häufiger entdeckt die Neandertal-Forschung heute, wie nahe sich beide Menschenformen in kultureller und technischer Hinsicht waren.

Diese Nähe aber macht das scheinbar spurlose und unvermittelte Verschwinden des Neandertalers umso rätselhafter. Möglicherweise hatte der Homo sapiens gegenüber dem Neandertaler nur eine leicht geringere Kindersterblichkeit. Die könnte es dem modernen Menschen in der Konkurrenz mit dem Ur-Europäer erlaubt haben, sich rascher zu vermehren. Bereits eine nur zwei Prozent geringere Sterblichkeit könnte ausgereicht haben, den Neandertaler über 30 Generationen - also binnen eines Jahrtausends - zum Aussterben zu verdammen.

Matthias Glaubrecht

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