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Gesundheit: "Venedig Boliviens": Die Ernte der Hügelfischer

Stellen Sie sich einen riesigen flachen See vor, so groß wie Budapest. Der See ist übersät mit Inseln, auf denen tausende Hauszelte stehen.

Stellen Sie sich einen riesigen flachen See vor, so groß wie Budapest. Der See ist übersät mit Inseln, auf denen tausende Hauszelte stehen. Reisende bewegen sich auf Dämmen zwischen diesen Zelten oder paddeln in den Kanälen mit Kanus.

Diese Wunderwelt gibt es wirklich. Entdeckt wurde sie in Baures, eine Region in Amazonien, die entlang der Grenze von Bolivien und Brasilien verläuft. Die Savannen und Wälder werden dort jedes Jahr während der Regenzeit überflutet. Und schon bevor die Spanier nach Südamerika kamen, entwickelten die Bewohner eine große, komplexe Gesellschaft. Das Nahrungsangebot in der Savanne ist gering. Der Boden ist zu nährstoffarm, um dort Pflanzen anzubauen oder große Viehherden zu halten. Außerdem steht das Land dieser Region jedes Jahr von November bis April unter Wasser. Wovon konnten also die Menschen leben?

Clark Erickson von der University of Pennsylvania beantwortet in der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazin "Nature" (Band 408, Seite 190) diese Frage so: Die Bewohner von Baures verwandelten ihr Land in eine gigantische Fischfarm, indem sie ein komplexes Netzwerk aus Erdwällen errichteten. "Statt die Pflanzen und Tiere der Savanne zu domestizieren, domestizierten die Menschen die Landschaft", sagt Erickson.

Umleitung für Fische

Eine Fischreuse ist eine Barriere, die in einem Fluss oder Teich errichtet wird. Sie zwingt vorbeischwimmende Fische zu einer Umleitung, so dass sie relativ einfach gefangen werden können. In Baures bestehen die Fischreusen aus Erdwällen, die ein bis zwei Meter breit und 20 bis 30 Zentimeter hoch sind. Eine Fläche von etwa vier Quadratkilometern enthält 50 Kilometer dieser Reusen; der gesamte Bereich schätzungsweise 1515 Kliometer.

Die Wälle wurden zickzackartig angelegt und ändern alle 10 bis 30 Meter ihre Richtung. An den Knickstellen wurden Lücken gelassen, an denen sich wahrscheinlich die Fischfänger positionierten. "Die Fische wurden mit dem steigenden und fallenden Wasserstand durch das Netzwerk aus Erdwällen gespült", erklärt Erickson. Wahrscheinlich schwemmte das Wasser die Fische regelrecht in die Fallen. Alternativ könnten auch Teams aus Fischern, Männern wie Frauen, in die Fallen getrieben haben, in dem sie "Geräusche machten und ins Wasser schlugen".

Wenn das Land überflutet wird, wandert eine große Anzahl von Fischen aus den Flüssen in die Savanne um dort zu laichen. Sie verwandeln dadurch die Wasserfarmen in reichhaltige Nahrungsquellen. Jeder Hektar des Überschwemmungsgebietes könnte jährlich etwa 1000 Kilogramm Fisch geliefert haben.

Die Wasserflächen beherbergten wahrscheinlich nicht nur Fische, sondern auch hunderte von Tonnen essbarer Schnecken. Auf den Erdwällen wuchsen Palmen, die vermutlich Nahrung, Textilien und Baumaterial lieferten. Erickson glaubt, dass die Bewohner sowohl die Schnecken als auch die Palmen gezielt kultivierten.

Außerdem lockte diese Wasserwelt weitere Tiere und Vögel an, die auch heute noch dort leben. Wenn die Erdwälle der Reusen damals hoch genug waren, könnten sie während der Trockenzeit auch zusätzlich als Fallen für Säugetiere gedient haben.

Vielleicht fungierten einige der künstlich angelegten größeren Teiche als "Speisekammern", die das ganze Jahr über Wasser und damit auch Fische und Schnecken bereit hielten. Während der Trockenzeit sicherten diese Reservoire wahrscheinlich auch die Wasserversorgung der Menschen, vermutet Erickson.

Sowohl die Indianer als auch die australischen Aborigines fingen über tausende von Jahren Fische mit Reusen. Aber sie nutzen dafür kurzlebige Strukturen, die in beständigen Gewässern wie Flüssen oder Flussmündungen errichtet wurden. Im Gegensatz zu den Menschen am Amazonas: Diese schufen dauerhafte Reusen, um das zeitlich begrenzte Hochwasser zu nutzen. Heute lebt in der Baures-Region niemand mehr. Nach einer konfliktreichen Periode mit den Europäern und nachdem die Eingeborenen durch westliche Krankheiten dezimiert wurden, verließen die Einwohner ihre Dörfer. Sie zogen in die Städte, und die Natur begann das äquatoriale Venedig zurückzuerobern. Dennoch können wir heute noch von den ehemaligen Bewohnern der Baures-Region lernen, meint Erickson. Obwohl sie die Landschaft massiv umgestalteten, schonten sie die Umwelt - ein krasser Kontrast zu den meisten Entwicklungen, die heute im Amazonasgebiet im Gange sind.

Erickson möchte die Fischreusen in einem Experiment nun wieder aufbauen. "Ich hoffe, dass ich noch lebende Nachkommen der Bauren, die ursprünglich diese Erdwälle errichteten, in das Projekt involvieren kann", sagt er. "Ich glaube, dass die Techniken von Eingeborenen uns heute Modelle für eine nachhaltige Entwicklung liefern können."

Vor kurzem wurde auch noch ein weiteres altes landwirtschaftliches System in Amerika entdeckt: Einwohner des tropischen Regenwaldes in Panama bauten offensichtlich eine Mischung aus Kulturpflanzen an, die bereits domestizierte Formen von Süßkartoffel und Maniok enthielt.

Dolores Piperno und ihre Kollegen von der Universtiy of Pittsburgh fanden an ihrer Forschungsstätte, dem "Aguadulce shelter", Spuren einer menschlichen Behausung von vor über 11 000 Jahren. "In Amerika wurden mehr Pflanzen mit stärkereichen unterirdischen Speicherorganen domestiziert als in allen anderen Regionen der Welt", berichtete Piperno letzten Monat in Nature. "Wir haben schon lange vermutet, dass das Amazonas-Tiefland ein Zentrum der prähistorischen Landwirtschaft war."

Das Hauptproblem der Archäologen stellte bisher das tropische Klima dar: Die Pflanzenknollen werden unter den herrschenden Bedingungen nicht besonders gut konserviert. In der Vergangenheit führte dieser Mangel an Beweisen dazu, dass viele glaubten die Landwirtschaft Amerikas hätte sich zunächst in den höheren und trockeneren Regionen entwickelt. Außerdem sei der tropische Regenwald zu feucht und der Boden zu nährstoffarm, um einen Anbau von Feldfrüchten zu ermöglichen.

Süßkartoffeln und Maniok

Die Menschen des "Aguadulce shelter" mahlten die geernteten Feldfrüchte, indem sie sie mit einem kleinen handlichen Stein auf einem größeren, flachen Stein zerkleinerten - "wie mit Mörser und Pistell", sagt Piperno. Die Stärkekörner, die auf diesen Mahlsteinen zurückblieben, verraten heute unter dem Mikroskop, welche Pflanzenarten die Menschen damals anbauten. Gefunden wurden Süßkartoffel, Pfeilwurz und Maniok.

Süßkartoffel und Pfeilwurz wachsen in Panama auch wild, was vermuten lässt, dass die domestizierten Arten von heimischen Spezies der Region abstammen. Die domestizierte Variante des Maniok dagegen - inzwischen in Süd- und Zentralamerika ein Hauptnahrungsmittel - stammt vermutlich von einer Art ab, die ursprünglich im Südwesten Brasiliens wuchs. Die 4000 Kilometer lange Reise überwand der Maniok wahrscheinlich mit Hilfe des Menschen.

Entdeckungen wie die von Erickson und Piperno offenbaren, dass der Amazonas keine unberührte Wildnis ist und dass die Menschen dort nicht nur nomadische Jäger und Sammler waren. Die Landschaft zeigt deutliche Spuren einer Jahrtausende alten menschlichen Besiedlung.

Der Autor ist Redakteur des internationalen Wissenschaftsmagazins "Nature", dessen Mitarbeiter regelmäßig im Tagesspiegel schreiben. Aus dem Englischen von Manuela Röver.

John Whitfield

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