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Gesundheit: Warten auf Wagner und Wirz - die Arbeit an dem Großwerk gleicht einer Mängelverwaltung

Ohne die Buchausgabe hätten die Autoren der Tagesspiegel-Serie "Mein Berliner Zimmer" kaum Chancen gehabt, ihre Beiträge im Lexikon "Die deutsche Literatur" aufgenommen zu sehen. Nicht, dass dessen Herausgeber etwas gegen Zeitungsveröffentlichungen im Allgemeinen oder den Tagesspiegel im Besonderen hätten; der Arbeitsaufwand wäre zu groß gewesen, die "25 Bekenntnisse zu dieser Stadt" unter den einzelnen Autorennamen zu registrieren.

Ohne die Buchausgabe hätten die Autoren der Tagesspiegel-Serie "Mein Berliner Zimmer" kaum Chancen gehabt, ihre Beiträge im Lexikon "Die deutsche Literatur" aufgenommen zu sehen. Nicht, dass dessen Herausgeber etwas gegen Zeitungsveröffentlichungen im Allgemeinen oder den Tagesspiegel im Besonderen hätten; der Arbeitsaufwand wäre zu groß gewesen, die "25 Bekenntnisse zu dieser Stadt" unter den einzelnen Autorennamen zu registrieren.

Hunderttausend Namen vom späten Mittelalter bis zur Gegenwart sind es sicher, die vom Herausgeber Hans-Gert Roloff, Germanistik-Professor an der Freien Universität Berlin, und drei wissenschaftlichen Redakteuren bearbeitet werden. Meistens handelt es sich um Namen, die keiner mehr kannte. Bisherige Lexika haben vielleicht zehn Prozent der Autoren und Texte erfasst, die geschrieben, gedruckt und gelesen wurden.

Von der Periode vor der Weimarer Klassik zum Beispiel kennen wir - einen "erweiterten Literaturbegriff" zugrundegelegt - etwa drei Prozent der damals produzierten Schriften, sagt Jörg Jungmayr, verantwortlich für die Reihe II (1450 bis 1620). Wir richteten den Blick auf die ganz Großen; die anderen, ohne deren Vorarbeit die epochalen Werke nicht hätten entstehen können, würden nicht beachtet. "Wir reden über Literatur, obwohl wir sie nicht kennen", ergänzt Walter Delabar, Privatdozent an der FU und, da seine Stelle als Wissenschaftlicher Mitarbeiter seit vier Jahren gestrichen ist, "Mängelverwalter" bei der Reihe VI (Die deutsche Literatur von 1890 bis 1990).

Nicht zuletzt auf Grund seiner Stellung ist Jungmayr einer der Stützen des Projektes: nämlich ein bei der FU festangestellter Redakteur des Werkes. Das ist seit der Wende wichtig. Obwohl das Ergebnis der Evaluierung, positiv war, hat seitdem niemand Geld für das wichtige Projekt. Dabei wird dem Vorhaben bescheinigt, dass allein das Werk- und Literaturverzeichnis für jeden Autor dieses Unternehmen zum "grundlegenden Arbeitsinstrument" für alle, die an Literatur interessiert sind, mache. Schon der ehemalige Wissenschaftssenator Erhardt meinte, dass die Finanzierung des Lexikons Angelegenheit der Universität sei - an dieser Haltung hat sich nichts geändert. Die Universität bezahlt aber nur einen festangestellten Redakteur. Gebraucht würden vier.

Leider haben Vertreter von Wissenschaft und Politik nie gemeinsam über diese Sache gesprochen. Professor Roloff, der inzwischen emeritiert ist, führt die Geschäfte weiter. Roloff hat nie die Frage stellen können, ob die Arbeit vielleicht eingestellt werden solle. So ist alles zu einer Personalfrage geworden. Da ist es schon ein Positivum, dass die Universität die Nachfolge für Emeritus Roloff ausgeschrieben hat. Sein Lehrstuhl - eine der zehn "Kernprofessuren", die von bisher 40 übrigbleiben - und die Forschungsstelle bleiben erhalten.

Roloff und seine Mitarbeiter haben feststellen müssen, dass weder Geld für wissenschaftliche Redakteure noch für Reisen oder für freie Mitarbeiter da ist. Denn in ganz Europa müssen Zeugnisse deutschsprachiger Literatur aufgespürt werden. Dieses "umfassende historische Museum", wie die Herausgeber ihr Werk in einem Weißbuch nennen, ist seit 1962 in Arbeit. In sechs chronologischen Reihen wird das Werk Literatur aus 550 Jahren umfassen, lateinische Literatur des deutschsprachigen Gebiets eingeschlossen. In jeder Reihe werden die Autoren mit ihrer Vita und ihren Werken vorgestellt (Abteilung A). Zusätzlich zu diesem Panorama der literarischen Texte wird in einer Abteilung B die Sekundärliteratur verzeichnet. Vorgesehen sind siebzig Bände, von denen bisher Band 1 der Reihe II (1450 bis 1620) erschienen ist.

Der "erweiterte Literaturbegriff" und "sinnvolle Vollständigkeit" bestimmen die Konzeption des Lexikons: "erweitert", weil weder zwischen schöner und Fachliteratur unterschieden wird noch zwischen hoher und Trivialliteratur. Die Zeiten, in denen ein Autor Lyrik und ebenfalls naturwissenschaftliche Werke verfasste, wie es zum Beispiel Georgius Agricola (1494 - 1555) tat, dürften vorbei sein. Die Schriften des deutschen Universalgelehrten, des bedeutendsten Förderers der mineralogischen Wissenschaften und Beschreiber der Berg- und Hüttenkunde in der frühen Neuzeit, waren bis in die Romantik noch bekannt. Die Titel der geistes- und naturwissenschaftlichen Schriften des Humanisten, Philologen, Arztes und Naturforschers spiegeln die damals noch bestehende Einheit der Wissenschaften wider, die Liste seiner Übersetzungen seine damalige Verbreitung. Unter den Übersetzern von Agricola fidnet sich Michail Lomonossow: Der Vater der russischen Grammatik war Lyriker und Naturwissenschaftler und hat im 18. Jahrhundert an der Bergakademie in Freiberg Agricolas Schriften studiert.

Schriftsteller und Dichter sind in dem Lexikon gleichberechtigt. So findet die einst vielgelesene Schriftstellerin Vicki Baum ("Menschen im Hotel") ebenso Aufnahme wie Thomas Mann. Theater- und Hörspielautoren werden erfasst, aber auch Übersetzer literarischer Werke, Reiseerzähler und Autobiografen oder Filmautoren. "Das Lexikon hat keine Auswahl vorzunehmen", bekräftigt Delabar.

Zu den Prinzipien der Lexikonarbeit gehört die Erforschung der Quellen. Das Material wird gesichtet, um es als zuverlässige Information zugänglich zu machen Die "große Schlüsselarbeit" ist die Aufstellung eines Registers, das nach bestimmten Themen gegliedert ist. Plötzlich ergeben sich dann ganz andere Gesichtspunkte aus dem Material. Wie bei einem österreichischen Schriftsteller Gerhard Aichinger, der bis 1945 als Journalist und Theaterautor nationalsozialistisches Gedankengut verbreitet hat und nach der Nazizeit unter Pseudonym Jugendbücher schrieb, Heldensagen herausgab und von Berlin aus mit Artikeln über Wirtschaftsfragen und Theaterkritiken journalistisch tätig war. Dass der 1978 gestorbene Aichinger mit den Namen Gerhard Aick, Eva Leitgeb und Ferdinand Schwartz, die er als Pseudonyme benutzt hat, identisch war, ist den genauen Recherchen für das Literaturlexikon zu verdanken.

Oder Peter Bamm - er ist einer der "schreibenden Ärzte", unter denen Gottfried Benn, Hans Carossa oder Alfred Döblin literarischen Rang erreicht haben. Bamm habe mit seinem in den fünfziger Jahren erschienenen Bericht "Die unsichtbare Flagge" "bewusstseinsstilisierend" für Westdeutschland gewirkt, meint Delabar. Über seine Zeit als Stabsarzt im Zweiten Weltkrieg an der Ostfront habe er in einer Weise geschrieben, dass die deutsche Wehrmacht als edle Waffenbrüder gegenüber der SS dastanden. Das zeige sich immer wieder an konservativen Protesten, wenn jemand den Mythos des edlen Opfergangs zerstöre - zum Beispiel in den Kontroversen um die Ausstellung "Vernichtungskrieg. Die Verbrechen der Wehrmacht 1941 - 1944". Auffällig sei, wie wenig Biografisches über ihn bekannt sei. Er wurde nicht als Peter Bamm in Sachsen geboren, wie noch in manchen Nachschlagewerken zu lesen ist, sondern als Curt Emmrich im Rheinland.

Solche falschen Angaben mögen in die Rubrik "Einer schreibt vom andern ab" fallen. Beispiele gibt es genug: Das Geburtsjahr der 1970 wiederentdeckten Irmgard Keun wird meist falsch angegeben. Sie wurde nicht, wie allgemein angenommen, 1910, sondern laut Urkunde 1905 geboren.

Nicht einfach abgeschrieben haben dagegen Autor oder Herausgeber von Bruno Brehms "Die Throne stürzten". Bis 1945 waren an dem geschilderten Untergang der Habsburger die Juden Schuld; Nachkriegsausgaben erscheinen dagegen ohne antisemitische Tendenzen.

Agricola, Aichinger, Bamm und Brehm - allenfalls bis "B" geht es im Alphabet bei den Beispielen. Die Autoren des eingangs erwähnten Bandes "Mein Berliner Zimmer" werden noch lange warten müssen, bis ihre Namen in der "Deutschen Literatur" aufgenommen werden können. In einem Jahrzehnt könnte das Lexikon erscheinen, wenn jeder der vier zu bearbeitenden Reihen wenigstens zwei Mitarbeiter hätte, sagt Roloff. Statt acht hat er aber nur einen "festen", Jungmayr, und zwei "freiwillige" und unbezahlte, Delabar und die wissenschaftliche Bibliothekarin Christiane Caemmerer. Nur einer der Autorennamen im Band "Mein Berliner Zimmer" beginnt mit "A": Armando. Richard Wagner und Mario Wirz, die letzten im Berliner-Zimmer-Alphabet werden sich noch lange gedulden müssen.

Wolfgang Lehmann

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