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Gesundheit: Was es heißt, ein Hund zu sein

Rund um Tier, Mensch und Technik: Impressionen aus der Langen Nacht der Wissenschaften

Es ist Sonnabend Nachmittag, kurz nach fünf. Ein hoch aufgeschossener Mann mittleren Alters in grauem Sakko schließt den Haupteingang Unter den Linden der Humboldt-Universität auf. Es ist Uni-Präsident Christoph Markschies, der damit die Lange Nacht der Wissenschaften an seiner Hochschule im wahrsten Sinne eröffnet.

Bis nachts um eins konnten die Neugierigen in der Nacht von Sonnabend auf Sonntag insgesamt 1600 Programmpunkte in 145 Gebäuden von 60 Berliner und Potsdamer Instituten ansteuern. Bei der Zahl der Besuche der einzelnen Stationen meldete eine Sprecherin der Veranstalter einen neuen Rekord: 139 856 – das sind zwanzig Prozent mehr als im Vorjahr. Wie viele Besucher gekommen sind, ist noch nicht bekannt. Im vergangenen Jahr waren es 24 390.

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Kaum hat der HU-Präsident die Gäste hinein gelassen, stutzen sie. Im altehrwürdigen Atrium der Uni heult, jault und grunzt es. Es sind Tierlaute , gesammelt im Tierstimmenarchiv des Museums für Naturkunde. Die Stimmen von Schwein und Schwertwal werden über Lautsprecher in das Foyer übertragen. Die Wildnis ergreift Besitz von der Wissenschaft, zumindest akustisch.

Gleich links am Eingang kann man erfahren, was es heißt, ein Hund zu sein. Wenigstens mit den Ohren. Die Tierstimmenforscher haben mit Hilfe eines künstlichen Hundekopfs imitiert, wie ein Hund hört. Mit dem Kopfhörer kann jeder sich in ihn hineinversetzen. Hunde hören vor allem die hohen Töne. Und sie hören präziser als wir Menschen. Denn sie lauschen dank der Form ihrer Ohren nach vorn, als wären die Ohrmuscheln Richtmikrofone.

Wie aber fühlt es sich an, 80 Jahre alt zu sein, vielleicht sogar einen Schlaganfall erlitten zu haben? Das wird von den Mitarbeitern des Graduiertenkollegs „Multimorbidität im Alter “ im ersten Stock des Hauptgebäudes demonstriert. Sie lassen die Besucher in „Minutenschnelle altern“. Mit Mullbinden wird der rechte Arm der Versuchsperson nach hinten gebunden, dazu ein Gewicht an die Schulter gehängt, dann das rechte Bein mit einer schweren Bandage blockiert, schließlich eine Sonnenbrille mit der entsprechenden Sehfeldeinschränkung aufgesetzt. Und nun ein T-Shirt anziehen! Schlaganfall? Lieber nicht.

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Diese Nacht ist schlecht für Berlins Diskos. Alle Teenager der Stadt scheinen sich in Dahlem verabredet zu haben. Sie sitzen in den Velo-Taxis der Freien Universität, drängeln sich vor den rätselhaften Versuchsanordnungen der Physiker in der Arnimallee, relaxen in Designerstühlen der Rostlaube und trinken Cocktails vor der Partybühne – für die Unis nicht nur die klügste, sondern auch die jüngste Nacht des Jahres.

Apropos Rostlaube: Sie glitzert und blitzt, als habe Harry Potter die größte Schatzkammer aller Zeiten geöffnet. Der Zauberer heißt aber Andreas Boehlke, ein Lichtkünstler. Kann die Rostlaube nach diesem Spektakel noch Rostlaube heißen? FU-Präsident Dieter Lenzen kündigte in der Langen Nacht einen Wettbewerb für einen neuen, „würdigeren“ Namen an. Einige FU-Mitarbeiter meinen schon zu wissen, wofür Lenzen sich entscheiden wird: für „ Glanzlaube “. Je nachdem, wie die FU beim Uni-Elitewettbewerb abschneidet, seien aber auch „Gold“- oder „Bronzelaube“ denkbar.

„Frische Forschung“ hat die FU für die Lange Nacht versprochen. Und tatsächlich. Wer sich erschöpft auf einem der Drahtsofas vor der Garderobe der Rostlaube niederlässt, wird sofort selbst zum Forschungsobjekt. Natalie, Studentin der Gesundheitspsychologie, lauert darauf, Besucher als Teilnehmer an ihrer Studie zu gewinnen. Thema ihrer Diplomarbeit: Zahnseide . Auf ihrem Fragebogen kreuzt sie an, wie oft und wo man Zahnseide verwendet und ob man sich manchmal davor drückt. Ein interessantes Ergebnis erfährt die Besucherin sofort. Sie ist mit 14 mal Zahnseidebenutzung pro Woche Testsiegerin der Langen Nacht – mit Abstand, wie Natalie sagt (Stand: 21 Uhr 35).

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Massy guckt traurig. „Du bist toll!“, sagt sie dann. Sascha Fagel tippt etwas in seinen Laptop ein, dann wiederholt Massy das Kompliment mit einem Lächeln. Massy ist keine reale Person, sie existiert nur auf dem Computerbildschirm. Fagel hat die gesprächige Dame am Institut für Sprache und Kommunikation der TU entwickelt, die Technik nennt sich audiovisuelle Sprachsynthese. Um Massy das Sprechen beizubringen, hat er am Digitalfoto einer Kollegin genau vermessen, wie sich Lippen und Zunge bei Worten und Sätzen bewegen. Diese Bewegungen konnte er anschließend auf Massy übertragen. Nachdem die digitale Dame einmal gelernt hat, wie sich ihr Gesicht bei verschiedenen Lauten verhalten muss, kann sie jetzt ganze Sätze mit den passenden Mundbewegungen sprechen. Die Technik könnte bei Animationsfilmen wie „Shrek“ eingesetzt werden, erklärt Fagels Kollegin Caroline Clemens. Dann müsste man sich nicht mehr eine deutsche Synchronfassung anschauen, bei der der Held die Lippen vollkommen falsch bewegt. Massy könnte aber auch einem therapeutischen Zweck dienen. Fagel und Clemens können mit ihrem Programm eine Seitenansicht des Kopfes produzieren und zeigen, wie sich die Zunge bei verschiedenen Lauten und Worten bewegt. Die Technik könnte so Logopäden helfen, ihren Patienten das Sprechen neu beizubringen, etwa nach einem Schlaganfall. Wer Massy selber sprechen lassen möchte, kann das im Internet tun unter der Adresse http://avspeech.info.

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Im Jahr der Weltmeisterschaft stand auch die Lange Nacht der Wissenschaften im Zeichen des Fußballs. Zumindest in Adlershof. Tosenden Beifall bekam die humanoide Roboter-Torwärtin Aimy im Großen Hörsaal des Erwin-Schrödinger-Zentrums, als sie mit einer gekonnten Beingrätsche virtuos einen pflaumengroßen Ball hielt, den ein Junge zaghaft in die rechte Ecke des Tors von der Größe eines Schuhkartons platziert hatte. Dass hinter solchen computergesteuerten Bewegungsabläufen jahrelange Forschungsarbeit steckt, zeigten die Informatiker anhand von Fußball-Simulationen. „Mit herkömmlichen Computerspielen hat das recht wenig zu tun, denn dabei werden alle Spieler zentral gesteuert," erklärte einer. Die Forscher von der Humboldt-Universität programmieren Individuen, die für sich selbst entscheiden, gleichzeitig aber lernen, dass Teamverhalten für sie von Vorteil ist. Wie gut das klappt? Die nächste Berliner Lange Nacht der Wissenschaften wird’s vielleicht zeigen.

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