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Gesundheit: Was wir uns zurechtschreiben KORREKTOR 1 KORREKTOR 3 KORREKTOR 2 „Aus Werbeblock wird Werbebock“ „Viele potenzielle Fehlerquellen“ „Sicherheitshalber wird großgeschrieben“ REFORM-LEXIKON

Drei Tagesspiegel-Korrektoren setzen den Rotstift an und zeigen, welche der neuen Regeln besonders schwierig sind – auch für Redakteure

„FERTIGSTELLEN“ UND „KURZ HALTEN“: FÜNF JAHRE NEUE RECHTSCHREIBUNG

Wie hat alles begonnen?

Im Juli 1996 haben Deutschland, Österreich und die Schweiz unterschrieben, dass sie die bisher geltenden Regeln von 1901 durch neue ersetzen wollen, die eine gemeinsame Kommission dann erarbeitete. Stichtag war der 1. August 1998. In Deutschland erklärte das Bundesverfassungsgericht die Reform zwei Wochen vorher für rechtmäßig.

Wer schreibt neu?

Eine Untersuchung in Zusammenarbeit mit dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels ergab, dass 2001 bereits 80 Prozent aller Bücher und Broschüren in neuer Schreibweise auf den Markt kamen. Ab August 2005 sind die Regeln für Schulen verbindlich.

Wer schreibt alt?

Nach einer Umfrage von „Polis“ sagt fast jeder zweite Deutsche, dass er nichts mit der neuen Orthografie anfangen kann. Autoren wie Enzensberger, Martin Walser oder Günter Grass bleiben bei der alten Schreibung.

Wie schreiben Zeitungen?

Am 1. August 1999 führten die Nachrichtenagenturen eine veränderte Rechtschreibung ein, die in mehreren Punkten aber konservativer als die Reform ist. Diesen Regeln folgen viele Zeitungen, auch der Tagesspiegel. akü

„Der Delfin im Jogurt lässt grüßen“: Ein Büchlein mit diesem Titel über Gehversuche in der neuen Rechtschreibung hat alle Agierenden beim Tagesspiegel bei der Einführung des neuen Regelwerks mit den wichtigsten Änderungen der Orthografie bekannt gemacht. Fast sofort beschloss ich, die Reform auch in meinem privaten Schriftverkehr umzusetzen. Und hätte ich mir mehr aus Jogurt gemacht, hätte ich nicht monatelang (keinesfalls „Monate lang“) warten müssen, bis mit dem „Tortenguss“ zum ersten Mal eine Novität auf meinem Einkaufszettel auftauchte. Da standen die Redakteure und Autoren mit dem „ss“ statt des „ß“ längst nicht mehr auf Kriegsfuß, und der Diphthong, das zuvor ziemlich unbekannte Wesen, hatte Einzug in den allgemeinen Sprachgebrauch gehalten. Nach den Doppellauten „au“ oder „ei“ musste es also ebenso wie nach langem Vokal weiter „ß“ heißen. Dass mit „Fussball“ oder „Strasse“ auch mal ein Autor übers Ziel hinausschoss, gehörte bald der Vergangenheit an. Aber auch heute sind sehr viele Fehler in den Artikeln einem solchen ÜbersZiel-Hinausschießen geschuldet.

Die größten Hürden bei der Umsetzung der Rechtschreibreform stellen nach wie vor die Zusammen- oder Getrenntschreibung und die Groß- oder Kleinschreibung dar. Da stecken die potenziellen (und nicht mehr „potentiellen“) Fehlerquellen. Obwohl sehr viele schier unbegreifliche Ausnahmen der alten Rechtschreibung eliminiert wurden, erschließen sich auch die Vereinfachungen nicht jedem auf Anhieb, zumal, wenn er selbst in Schule und Studium ja noch anderes (nicht etwa „Anderes“) gelernt hat. Da will plötzlich so mancher „zurück kommen“ statt „zurückkommen“, und im Übrigen (statt „im übrigen“) greift die Reform selbst nach Expertenmeinung einfach nicht weit genug, so dass die Logik auch nicht immer weiterhilft (und nicht „weiter hilft“). Nur ein Blick in den Duden kann weiter (im Sinne von weiterhin) helfen, wenn wir nicht mehr weiterwissen. Des Weiteren sollte das ein neueres Exemplar sein, denn auch die Nachschlagewerke sind weiter dabei, die Anpassung der neuen Regeln an die Praxis weiterzuentwickeln.

Der Tagesspiegel bemüht sich seit Jahren, seinen Lesern Beiträge in korrekter neuer Schreibweise zu präsentieren. Dass da andere Zeitungen oder Behörden nicht mitmachen, ist ärgerlich. In der Öffentlichkeit ergibt sich ein ziemlich uneinheitliches (Schrift-)Bild, wie soll man sich da selbstständig (und nicht mehr „selbständig“) die neuen Schreibweisen aneignen?

Im Bemühen, möglichst fehlerfrei zu publizieren, schwören viele Redakteure unserer Zeitung auf die Rechtschreibprüfung des Redaktionssystems. Das Ärgerliche ist nur: Computer können nicht denken. Die wissen einfach nicht, ob mir die Bank einen Betrag gutschreiben wird oder ich diesen Beitrag gut schreiben kann. Auch nicht, ob der zitierte Experte nun Maier oder Meier heißt. Und ob von der Mine im Bleistift oder der Miene des Sportlers die Rede ist, kann die Maschine auch nicht entscheiden. Und manchmal ist die Hektik des Produktionsalltags daran schuld (in diesem Fall nicht „Schuld“), wenn eine Milliarde zur „Millliarde“ wird oder das Wochenende etwas verkürzt als „Wochende“ daherkommt. Solche Fehler – von inhaltlichen Ungereimtheiten ganz zu schweigen – haben mit der neuen Rechtschreibung nichts zu tun und ärgern Sie als Leser darum besonders. Zu Recht. Nicht zurecht. Denn das will ich gerne zurechtrücken: Auf Korrektoren kann auch diese Zeitung nicht verzichten.

Michaela Schanninger, 46, war zwischen 1990 und 1994 Korrektorin beim Tagesspiegel, seit 1997 ist sie es wieder.

Frühstück. Wie immer schnappe ich mir zuerst den Kulturteil. Aha, ein Artikel von Harald Martenstein. Am Ende des ersten Absatzes merke ich, dass ich den Korrektur-Blick mal wieder nicht lassen kann: „Aus welchen Gründen werden Verbrechen begangen? Aus Leidenschaft, aus Geldgier, oder wegen wertvoller Ideale.“ Warum ist hier schon wieder ein Komma vor das „oder“ gesetzt worden?

Auffallend häufig wird dieses Komma vor „und“ oder „oder“ neuerdings gesetzt, auch bei eng zusammenhängenden Sätzen (1), zwischen gleichrangigen Teilsätzen (2), zwischen Satzgliedern (3) und auch bei aufzählenden Wortgruppen und Wörtern (4), wie im obigen Beispiel. In all diesen Fällen muss kein Komma gesetzt werden. Nach der neuen Rechtschreibung sind doch die Kommaregeln vereinfacht und reduziert worden, aber es werden nicht weniger Kommata gesetzt. Bei vielen Zeitungen (Agenturabsprache!) wird auch das Komma bei erweitertem Infinitiv beibehalten, das nicht mehr in jedem Fall zwingend ist.

(1) Wir können zu Fuß gehen und ihr könnt mit der U-Bahn fahren.

(2) Wir erwarten, dass er heute kommt oder dass er anruft.

(3) Bestelle dir doch Kaffee und Kuchen oder was du noch willst.

(4) Die Geigen, die Bratschen und auch die Celli waren schlecht zu hören.

Ja, wie ist das überhaupt mit der neuen Rechtschreibung, auch hier in der Tagesspiegel-Redaktion?

Kinder und Jugendliche, die Lesen und Schreiben nach der neuen Rechtschreibung lernen, werden diese wohl weitgehend verinnerlichen. Ob sie aber in der Tendenz weniger Fehler machen werden als die Generationen vor ihnen, ist zu bezweifeln – allein schon deshalb, weil ja das Problem der Groß-/Kleinschreibung geblieben ist.

Die Generation der heutigen Schreiber aber, die selber mit der alten Rechtschreibung groß geworden ist, hat die neue Rechtschreibung nach meinem Eindruck bislang in Teilbereichen angenommen, in anderen herrscht nach wie vor eher Unsicherheit/Verwirrung. Natürlich kann ich hier im Tagesspiegel nur die Ressorts einigermaßen beurteilen, für die ich einige Mal im Monat Korrektur lese – also Kultur, Wirtschaft, Forschen und Wissen, Medien, Interaktiv, Sport und Politik. Auffallend wenig Fehler werden übrigens im Sportressort gemacht!

Bei manchen Fehlern liegt es auch an der Klarheit bzw. Schlüssigkeit der Regeln und deren Anwendung im Duden selbst. Akzeptiert ist z. B. die Trennung von s und t (Ins/ti/tut, be/fris/ten), auch die Schreibung von ss bzw. ß. Hier ist aber auch die Regel klar: langer Vokal – ß (Fuß), kurzer Vokal – ss (Kuss). Die meiste Verwirrung gibt es im Bereich der Getrennt- oder Zusammenschreibung, insbesondere bei den Verben. Die frühere, doch irgendwie zu vermittelnde Regel (Wörtlicher Sinn – getrennt: Sie können gerne sitzen bleiben; übertragener Sinn – zusammen: Es sind fünf Schüler sitzengeblieben.) ist ersetzt durch eine Fülle grammatikalischer Begründungen. Der Schreibende muss jeweils beachten, ob es sich bei Zusammensetzungen um solche mit Verben, (steigerbaren) Adjektiven, Adverbien, Präpositionen, Partikeln usw. handelt. Aber selbst bei diesen Regeln ist der Duden nicht schlüssig. Man kann „eine Messlatte hochlegen“, ich kann aber auch darum bitten, mir „die Messlatte etwas höher zu legen“. (Als ich übrigens mal bei der „Orthographischen Notrufzentrale“ von Duden angerufen und um Erklärung gebeten habe, kannte der Mensch am Telefon noch nicht einmal den Begriff.)

Unterscheidungen wie „bereitstellen“ und „fertig stellen“, „kurzarbeiten“ und „kurz halten" sind nicht unmittelbar einleuchtend. Auch die Eselsbrücke, alle Verbverbindungen mit „zusammen“ werden im Prinzip zusammengeschrieben, alle mit „auseinander“ auseinander, ist zwar gut zu merken, aber nicht logisch grammatisch ableitbar oder sonst wie sinnfällig. Als Tendenz ist festzustellen, dass im Tagesspiegel – sicherheitshalber? – mehr großgeschrieben wird als früher. Nicht leicht nachvollziehbar sind auch folgende Regeln: „bis auf weiteres“, aber „als Weiteres“, „die wenigen“, „einige wenige“ (unbest. Zahladjektiv), aber „dieses Wenige“ (qualifizierend).

Abgesehen von den Fehlern, die mit der neuen, ungewohnten Rechtschreibung zusammenhängen, fallen grammatische Fehler (mein geliebter Genitiv!) und Satzkonstruktionsfehler beim Korrigieren besonders auf. Man muss aber auch wissen, dass viele Artikel „bis zur letzten Minute“ geschrieben bzw. aktualisiert werden, dabei schleichen sich natürlich leicht Fehler ein. Seit zwei Jahren habe ich nun einen gewissen Einblick in den Produktionsprozess der Zeitung und der zeitliche Druck, unter dem doch sehr oft gearbeitet wird, verblüfft mich immer wieder. Auch wir Korrektur-Leser müssen immer wieder mal etwas nachschlagen und manchmal haben wir für eine Seite nur 10 bis 15 Minuten Zeit.

Gerlinde Maikowski, 60, war viele Jahre Lehrerin für Deutsch und Französisch; seit zwei Jahren ist sie Korrektorin beim Tagesspiegel.

Wie gut beherrschen die Tagesspiegel-Redakteure die neue Rechtschreibung? Das fällt mir auf Anhieb gar nicht so leicht, zu sagen. Wenn ich Korrektur lese, achte ich ja nicht nur darauf, sondern auf Rechtschreibung überhaupt und auch auf inhaltliche oder grammatische Fehler.

Zur neuen Rechtschreibung fällt mir aber vor allem auf, dass die Redakteure glauben, dass mit der Reform viel mehr Wörter getrennt geschrieben werden als vorher. Das stimmt aber nicht. Zum Beispiel liest man im Tagesspiegel „voran bringen“ statt „voranbringen“. Aber nur, wenn sich das Adjektiv in einer Wortverbindung steigern lässt, schreibt man getrennt, etwa „hoch (höher) werfen“. Trotzdem ist es falsch, wenn im Tagesspiegel steht: „der Kampf werde weiter gehen“ statt „weitergehen“. Denn hier wird „weit“ nicht gesteigert, gemeint ist, der Kampf werde „vorangehen“. Das zeigt schon, wie schwierig die Rechtschreibung geblieben ist. Wer soll sich schon merken, dass es „bereitstellen“ heißt, aber „fertig stellen“?

Auch bei der Groß- und Kleinschreibung sind die Kollegen unsicher. Zum Beispiel wissen nicht alle, dass man „Einzelnes“ jetzt groß, „vieles“ aber klein schreibt wie früher. Diese Regel kommt aber auch mir sehr unlogisch vor.

Hingegen haben fast alle Redakteure gelernt, dass „dass“ und andere Wörter nun nicht mehr mit „ß“ geschrieben werden. Manche gehen auch bei dieser Regel allerdings zu weit. Häufiger entdecke ich in Artikeln ein „ss“, wo es gar nicht hingehört, zum Beispiel nach langem Vokal und Diphthongen, wo das ß geblieben ist: „fließen“ oder „heiß“ ist richtig, nicht „fliessen“ oder „heiss“. Weitgehend durchgesetzt hat sich im Tagesspiegel auch die neue Trennungsregelung, z. B. beim „s-t“, auch wenn das einigen Kollegen manchmal noch weh tut .

Insgesamt hat die Rechtschreibreform für uns „Ältere“ wohl zu keiner wesentlichen Erleichterung, sondern eher zur Verunsicherung geführt. Auch ich selbst stutze noch manches Mal, wenn ich eine neue Schreibweise sehe. Viele Fehler im Tagesspiegel haben aber mit der Reform gar nichts zu tun. Eine grammatische Variation, die ich häufiger sehe, ist, der doppelte Dativ. Das ist wohl eine spezielle Berliner Sprachschwäche: „Mit großem finanziellem Aufwand“ statt „Mit großem finanziellen Aufwand“. Die erste Schreibweise ist zwar neuerdings erlaubt, aber bestimmt nicht schön. Wenn ich für das Ressort Politik Korrektur lese, fällt mir manchmal eine leichte Schwäche auf, wenn es um Abkürzungen von Staaten oder Institutionen geht. Es heißt dann „die USA hat“ oder „die UN hat“ statt „die USA haben“. Bei solchen Feinheiten hilft auch die Korrekturtaste am Computer nicht. Apropos Korrekturtaste: Sie ist ein großer Spaßfaktor für mich als Korrektor. Denn Verwechslungen gibt es genug. Dann wird aus einem „Werbeblock“ automatisch ein Werbebock und aus einem Hutong (einem traditionellen chinesischen Wohnhof) ein Hot Dog.

Welches Ressort ist nun am besten? Positiv hervorheben möchte ich ausdrücklich die Sportredaktion und die Dritte Seite, die durchgehend die wenigsten Fehler machen, gefolgt von Wissen/Forschen, Wirtschaft, Kultur und Interaktiv/Medien.

Hans-Hermann Zywietz, 43, ist seit zwei Jahren Korrektor beim Tagesspiegel.

Fotos: Mike Wolff/Kitty Kleist-Heinrich/ privat

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