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Gesundheit: Wenn Sekunden über Leben und Tod entscheiden

Als es in seiner Brust brannte, dachte Holger Wendt nicht an Herzinfarkt. Die 112 kam ihm nicht in den Sinn. Der Berliner schaffte es rechtzeitig ins Krankenhaus. Die „Herzwoche 2007“ informiert, damit mehr Patienten gerettet werden

Das Brennen begann, als er sich die Schuhe zuband. In der Lunge, der Brust, bis hinunter zum Bauch. Er atmete keuchend, bekam kaum noch Luft. Ein Augenblick Ruhe werde schon helfen, dachte Holger Wendt*. Doch als er im Sessel saß, brach ihm der Schweiß aus. „Da wurde mir klar, dass ich etwas unternehmen musste“, sagt der 59-Jährige.

Der schlanke Mann mit dem winzigen grauen Bart unter den Lippen sitzt im Aufenthaltsraum der kardiologischen Station des Urban-Krankenhauses in Kreuzberg. Der Soziologe, der heute als Archivar arbeitet, wirkt entspannt. Dabei ist es erst vier Tage her, dass er dem Tod von der Schippe sprang. Das Brennen in der Brust war ein Herzinfarkt. „Ein akuter Myokardinfarkt, nach dem kein Muskelschaden zurückgeblieben ist“, sagt Dietrich Andresen. Er ist Kardiologe und Direktor der Klinik für Innere Medizin. In einer Ecke seines Büros steht ein Monitor, auf dem ein abstraktes Kunstwerk zu sehen ist: Schatten und Linien, die sich bewegen. Es ist die Röntgendurchleuchtung eines Herzens bei einer Herzkatheteruntersuchung. Die pulsierenden Linien sind die Herzkranzgefäße, die den Herzmuskel ernähren. Der Eingriff wird aufgezeichnet und in Andresens Büro übertragen.

Auch Wendts Herz war hier zu sehen, etwa eine Stunde, nachdem er das Brennen spürte. Normalerweise ist das Herzkranzgefäß eine breite dunkle Linie, ein gleichmäßiger Bogen. Nach einem Infarkt sieht das anders aus: Wendts „Linie“ schlängelte sich. Im oberen Teil waren Ausbeulungen zu sehen, weiter hinten wurde die Linie dünner, bis sie kaum noch zu sehen war – weil dort kein Blut mehr durch das Gefäß zum Herzmuskel floss. Es war durch ein Blutgerinnsel weitgehend verstopft.

Wie aber passiert so etwas plötzlich? „Die Ablagerung aus Kalk und Cholesterin wächst ganz langsam“, erklärt Andresen. Das Gefäß wird an einer Stelle immer enger. Irgendwann entsteht ein kleiner Riss in der Ablagerung. „Das kann schon passieren, wenn der Blutdruck ein bisschen steigt.“ Und jetzt kommt es zum Infarkt: „Denn die Blutplättchen wollen den Riss zustopfen und verschließen dabei das ganze Gefäß.“ Wenn kein Blut mehr in den Herzmuskel fließt, stirbt er langsam ab. Andresen vergleicht das mit einer Blume, die vertrocknet. Und genau wie eine Pflanze könne man das Herz retten, wenn man es rechtzeitig „gießt“ – spätestens 90 Minuten nach dem Infarkt. Bei Wendt waren es zum Glück nur 40 Minuten, bis er auf dem Operationstisch des Klinikums Am Urban lag.

Ärzte schoben einen schmalen Plastikschlauch in der Leistengegend in den Körper und durch die Aorta bis zum Herzen. Ein Herzkatheter, an dessen Ende ein Ballon sitzt, umgeben von einem Drahtgeflecht. An der verstopften Stelle wird er aufgepumpt, so dass der Draht die Kalkablagerung zusammenpresst. Herzkranzgefäß-Ballondilatation heißt das Verfahren. Hinter dem Ballon ist ein Auffangkäfig, in dem sich Kalkreste sammeln. „Solches Zeug holen wir da raus“, sagt der Kardiologe und zeigt ein Foto, auf dem bröselige weiße Klumpen zu sehen sind.

Nach der Prozedur floss wieder Blut in Holger Wendts Herz. Während des Eingriffs war er bei Bewusstsein und von der Behandlung beeindruckt: „Das war ein eingespieltes Notfallteam, das hatte so viele Arme wie eine indische Göttin.“

Holger Wendt hat Glück gehabt, dabei hat er nicht alles richtig gemacht. „Ich war kurz nach dem Infarkt vollkommen desorientiert. Ich bin nicht darauf gekommen, die 112 zu wählen.“ Man solle in so einem Fall aber unbedingt einen Krankenwagen rufen, sagt Andresen. Auch die Deutsche Herzstiftung beklagt, dass Warnsignale häufig zu spät erkannt werden. Würde immer sofort 112 gewählt, könnten viel mehr der jährlich etwa 265 000 Infarktpatienten in Deutschland überleben.

Auch Wendt versuchte erst, seine Freundin zu erreichen, dann die Nachbarn – vergeblich. Dann stieg er die Treppen hinab und lief 100 Meter bis zu einem Taxistand. „Erst im Auto wurde mir klar, was los war. Dabei hätte ich es eigentlich wissen müssen.“ Vor zwölf Jahren hat man ihm drei Bypässe gelegt, und vor sieben hat er einen Stent bekommen: eine Edelstahlgefäßstütze für eine zu enge Kranzarterie. Wendt wusste schon damals, dass Rauchen ein Risikofaktor ist, und versuchte aufzuhören. Erst nach dem Stent gelang es ihm. Außerdem ist er genetisch vorbelastet – auch sein Vater und der Bruder hatten Herzprobleme. Genau wisse man aber nicht, was wirklich dazu führe, sagt Wendt – und Andresen bestätigt das. Andere Risikofaktoren wie Übergewicht und Bewegungsmangel treffen auf ihn nicht zu. Er fährt gern Fahrrad. Das will er auch zur Erholung tun, wenn er aus der Klinik entlassen worden ist. Nicht nur mit den Fakten hat Wendt sich beschäftigt, auch mit seinen Gefühlen: „Ich hatte lange Zeit große Angst vor dem Tod.“ Doch jetzt ist das anders: „Das, wovor ich mich die ganze Zeit gefürchtet habe, ist eingetreten, und ich lebe noch.“ Es ist wie ein Geschenk: zusätzliche Jahre.

*Name von der Redaktion geändert

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