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Gesundheit: „Wir brauchen keine strengen Noten und kein Sitzenbleiben“

Klaus-Jürgen Tillmann, wissenschaftlicher Leiter der Laborschule in Bielefeld, plädiert dafür, Kinder früh und nachhaltig zu fördern, statt sie auszusortieren

Die Laborschule schneidet bei Pisa fast durchweg über den deutschen Spitzenwerten ab. Ist der Reformansatz voll und ganz bestätigt?

Alle jahrelange erhobenen Unkenrufe – bei euch fühlen sich die Kinder zwar gut, aber ob sie auch etwas lernen? – haben sich als falsch erwiesen. Wir bringen die gleichen fachlichen Leistungen wie Schulen mit vergleichbarer Schülerschaft, teilweise sind wir sogar besser. Außerdem liegt ja eine Kombination von Ergebnissen vor. Bei unserem Schwerpunkt des sozialen Lernens, für den wir uns sehr engagieren und viel Kraft investiert haben, erreichen wir um Längen bessere Ergebnisse als Regelschulen – sowohl bei der Bereitschaft, Ausländer zu integrieren, als auch beim Übernehmen von Verantwortung.

Was ist für Sie als wissenschaftlichem Leiter der Laborschule das wichtigste Ergebnis?

Schüler mit ganz unterschiedlicher Lern und Leistungsfähigkeit können erfolgreich in einer Gruppe gemeinsam lernen – ohne dass die Spitzenschüler gebremst werden. Unsere Pisa-Ergebnisse widerlegen ganz klar die alte These, dass Langsam- und Schnelllerner nicht zusammenpassen. Von unserem Konzept profitieren lernstarke wie lernschwache Schüler.

Welche Konsequenzen daraus sehen Sie?

Beim internationalen Teil von Pisa konnte man etwa an den Beispielen Finnland und Schweden schon sehen, dass konsequent integrative Gesamtschulsysteme zu hervorragenden Resultaten führen können. Unser Testergebnis zeigt nun: Das ist auch in Deutschland zu machen. Dafür kommt es auch nicht auf den Modellschul-Status an. Die Gesamtschulen brauchen aber eine gemischte Schülerschaft und Lehrer, die daraus etwas machen wollen. Wenn dagegen der „Creaming“-Effekt wie bei vielen deutschen Gesamtschulen eintritt und dort nur eine Rest-Schülerschaft verbleibt, wird es schwierig mit guten Resultaten.

Was sind die wesentlichen Erfolgsfaktoren der Laborschule?

Die Laborschule setzt auf frühe Lernförderung. Hier werden die Kinder mit fünf Jahren eingeschult und lernen dann schon munter Lesen und Schreiben. Damit wird ein produktives Lernalter genutzt. Zu den Erfolgsfaktoren gehört auch Lernförderung in der Gruppe. Wir setzen darauf, dass Kinder unterschiedlich sind und in ihrer Unterschiedlichkeit gefördert werden. Dazu brauchen wir keine Noten und kein Sitzenbleiben.

Welchen Stellenwert hat die Begleitforschung für den Erfolg?

Die Forschung ist in der Laborschule fest verankert. Das führt dazu, dass die Lehrer ihre Praxis regelmäßig reflektieren und verbessern. Das Beispiel zeigt aber auch, dass dies zur Verbesserung des Unterrichts beiträgt. Unsere leichte Schwäche in Mathematik hatten wir bei der internen Evaluation bereits entdeckt, und wir arbeiten schon daran, sie zu beheben.

Die Helene-Lange-Schule hat sogar noch besser abgeschnitten als die Laborschule – zeigen die Reformschulen einen Weg aus der Misere?

Die Ergebnisse zeigen jedenfalls, dass bestimmte deutsche Grundüberzeugungen, wie Schule aussehen muss, massiv hinterfragt werden müssen. Dazu gehört das frühe Aussortieren der Kinder, die Notwendigkeit strenger Noten und dass es das Sitzenbleiben geben muss.

Brauchen Schulen dazu spezielle Lehrer, mit besonderer Hinwendung zu ihren Schülern?

Wer an der Laborschule Lehrer ist, arbeitet freiwillig dort und steht hinter dem Konzept. Ein wesentlicher Unterschied ist auch: Die Lehrer an der Laborschule schicken niemanden weg. Wer mit fünf Jahren dort eingeschult wird, bleibt, auch wenn Lernschwierigkeiten auftreten. Kein Lehrer kann Probleme mit einem Kind durch Sitzenbleiben bewältigen; denn die Lerngruppe bleibt bestehen. Das schafft eine ganz andere Perspektive als an einer Regelschule.

Lassen diese beiden Ergebnisse Rückschlüsse auf wesentliche Defizite der Regelschulen zu?

Wie Lehrer mit Unterschieden umgehen beziehungsweise nicht umgehen, ist ein ganz ärgerlicher Punkt im deutschen gegliederten Schulsystem. Die Hoffnung auf die homogene Gruppe, in der dann endlich gut gelernt wird, ist anscheinend unausrottbar. Die Reformschulen haben dagegen das gesamte Spektrum der Leistungen, und Lehrer sind bereit, diese Heterogenität als Chance anzunehmen. Eine solche Perspektive wäre auch für das Regelschulwesen dringend nötig.

Das Interview führte Bärbel Schubert.

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