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Gesundheit: „Wir müssen über Fehler sprechen“

Gegen die Politik des Schweigens: Wie Matthias Rothmund Risiken für die Patienten verringern will

Nach einer Schätzung des amerikanischen „Institute of Medicine“ von 1999 sterben in den USA jedes Jahr zwischen 50000 und 100000 Menschen durch „unerwünschte Ereignisse“ im Krankenhaus. Wie viele sind es in Deutschland?

Darüber besitzen wir keine Zahlen. Aber wir müssen von einer ähnlichen Häufigkeit ausgehen.

Das heißt von einer Größenordnung von bis zu 25000 tödlichen „Ereignissen“?

Das kann sein. Aber die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie hat die Defizite erkannt und die Initiative ergriffen. Das erste Defizit habe ich schon genannt: wir haben keine eigenen Daten über die Häufigkeit von Fehlern.

Eine Boulevardzeitung schrieb sinngemäß: Mehr Tote durch Ärztepfusch als durch Verkehrsunfälle.

In dieser Aussage sind gleich mehrere Fehler drin. Erstens haben wir wie gesagt keine Zahlen über die Situation in Deutschland, und zweitens hat das mit Ärztepfusch gar nichts zu tun. Es geht um etwas anderes. Der Report des Institute of Medicine trägt nicht ohne Grund den Titel „Irren ist menschlich“. Überall da, wo Menschen arbeiten, geschehen Fehler. Aber in Krankenhäusern hat das schwerwiegendere Folgen. Deshalb rufen wir dazu auf, eine Fehlerkultur zu etablieren. Wir müssen lernen, über Fehler zu sprechen. Und das sind nicht in erster Linie die Kunstfehler. Viel häufiger sind Kommunikationsfehler. Einer versteht am Telefon etwas falsch, ein anderer verwechselt einen Namen. Oder ein Arzt ordnet ein Medikament handschriftlich an und die Schwester kann die Schrift nicht entziffern und gibt die falsche Dosis. Diese Nebensächlichkeiten können schlimme Folgen haben.

Was muss noch geschehen?

Ein Berichtssystem über unerwünschte Ereignisse in der Medizin muss eingerichtet werden. Es sollte ein Meldesystem und einen Vertrauensmann, einen Ombudsmann im Krankenhaus geben. Da kann dann ein Hilfspfleger, eine Krankenschwester oder auch ein Oberarzt hingehen und sagen: ich habe einen Fehler bemerkt. Wir müssen in den Abläufen was ändern, mit dem Ziel, dass dieser Fehler nicht mehr vorkommt.

Es soll nicht mehr vertuscht werden. Aber bedeutet ein Meldesystem nicht auch mehr Bürokratie?

Das wird sicher beklagt werden, aber ich glaube es nicht. In den USA ist es oft ein pensionierter Chefarzt, der als Ombudsmann dient. Wichtig ist, dass das System straffrei ist. Jeder, der sich an den Ombudsmann wendet, muss sicher sein: mir entstehen keine Nachteile.

Wird das nicht als Denunziation gewertet?

Ich sehe das eher so ähnlich wie die Verbesserungsvorschläge in der Industrie.

Was sagen denn Ihre Kollegen? Gelten Sie nicht als Nestbeschmutzer?

Das Wort ist mir schon öfter in letzter Zeit vorgehalten worden. Aber Selbstkritik ist auch da. Wir dürfen den Leuten nicht vormachen, dass alles schwarz und weiß ist, dass es nur gute und schlechte Ärzte gibt. Auch ein guter Arzt macht mal einen Fehler, auch eine gute Schwester vergisst mal was.

Haben Sie aus Ihrer eigenen Erfahrung ein Beispiel?

Jeder Arzt, wenn er ehrlich ist, erinnert sich an Fehler oder Fehleinschätzungen. Man hat eine Untersuchung zu spät angeordnet oder eine Medikamentenverordnung vergessen. Es gibt 1000 Beispiele. Die Öffentlichkeit wird nur aufmerksam, wenn ein GAU passiert: es wird ein falsches Organ transplantiert oder mit dem Organ Tollwut übertragen. Das ist zwar schlimm, aber selten. Es sind die kleinen Dinge im Alltag, die zählen. Deshalb versuchen wir, Fehler im System zu vermeiden. Etwa, indem wir Anweisungen des Arztes an die Schwester per Computer geben, nicht mehr handschriftlich.

Wie kann man die Patientensicherheit noch vergrößern?

Indem man etwas übernimmt, was in angelsächsischen Ländern normal ist, nämlich Morbiditäts- und Mortalitätskonferenzen. Nur 20 Prozent der deutschen Kliniken, die Chirurgen ausbilden, machen die Konferenzen.

Was hat man sich darunter vorzustellen?

Ärzte, Schwestern und Pfleger einer Abteilung treffen sich regelmäßig und setzen sich eine Stunde zusammen. Es wird über jeden Patienten, der verstorben ist, gesprochen. Das dauert manchmal nur drei Minuten, wenn es sich zum Beispiel um einen alten Mann handelt, der zum Sterben ins Krankenhaus kam. Aber was ist, wenn jemand unerwartet gestorben ist? Dann fragen wir uns: warum ist er gestorben? Was war die Komplikation? Was können wir tun, um das in Zukunft zu vermeiden?

Welche Ideen haben Sie noch?

Ein weiteres Beispiel ist die Lernkurve bei jungen Chirurgen. Die sollten nicht am Patienten, sondern am Modell oder am Computer üben. Studien zeigen, dass Eingriffe wie eine Gallenblasenentfernung mit Schlüsselloch-Chirurgie viel besser verlaufen, wenn am Computer in virtueller Realität geübt wurde. Ein anderes Beispiel sind Mindestmengen.

Die Zahl der Eingriffe?

Ein Chirurg muss eine bestimmte Zahl an Eingriffen machen, um in Übung zu bleiben und gut zu sein. Das ist eine heiße Diskussion, weil etwa die Deutsche Krankenhausgesellschaft die Mindestmengen gering halten will, um möglichst viele Kliniken am Leben zu erhalten. Aber wir müssen auch an den Patienten denken. Mehr Übung, weniger Komplikationen.

Arbeiten Sie auch mit Patientenverbänden und Verbraucherschützern zusammen?

Am Montag wird das Aktionsbündnis Patientensicherheit gegründet. Das ist ein Zusammenschluss wichtiger Institutionen – der Ärztekammern, der Spitzenverbände der Krankenkassen, des neuen Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, von Selbsthilfegruppen und dem deutschen Pflegerat.

Sogar die besten Ärzten machen Fehler, sagen Sie. Gibt es auch echte schwarze Schafe?

Die gibt es. Die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie hat eine Studie begonnen, die sich an eine in Kanada entwickelte Kompetenzprüfung anlehnt. Das Ergebnis der Kanadier: 90 Prozent der Ärzte bestehen ohne weiteres, bei zehn Prozent gibt es Defizite. Der Hälfte von denen, also fünf Prozent von allen, wird geraten, ihre Tätigkeit aufzugeben.

Woran erkennt man ein gutes Krankenhaus und einen guten Arzt?

Durch Rankings in Zeitschriften, vor allem aber durch Erfahrung des Hausarztes oder anderer Patienten.

Das Gespräch führte Hartmut Wewetzer.

Matthias Rothmund , Präsident der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, ist Direktor der Klinik für Visceral-, Thorax- und Gefäßchirurgie der Universität Marburg.

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