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Gesundheit: „Wir nehmen die Terrorgefahr in Kauf“

Es ist gut, wenn die Deutschen keine Angst vor Anschlägen haben, sagt der Politologe Herfried Münkler

Herr Münkler, haben Sie WM-Karten?

Nein, das ist ein Luxus, den ich mir leider nicht leisten kann: Mir fehlt die Zeit.

Terror-Angst treibt Sie nicht um? Nach den Attentaten in London wurde befürchtet, die WM-Stadien könnten Ziele von Anschlägen werden. Und jetzt der Amoklauf von Berlin.

Die Annahme, dass politisch motivierte Attentäter die WM zum Anlass von Anschlägen nehmen könnten, ist durch nichts gedeckt. Das ist eine Fantasie, die zwischen Sicherheitskreisen und Journalisten zirkuliert. Es hat sich herausgestellt, dass es eine zentrale Führung durch Al Qaida, die so etwas hätte planen können, nicht mehr gibt. Geblieben sind selbstständig operierende terroristische Zellen, wie die, die für die Anschläge in Madrid und London verantwortlich sind. Sie schlagen in Zeiten zu, die ihnen optimal erscheinen, und das sind in der Regel nicht Phasen einer erhöhten Aufmerksamkeit der Sicherheitsorgane. Die Terroristen brauchen nicht den Medienhype einer Großveranstaltung. Ihre eigenen Anschläge sind Veranstaltung genug, damit sie im globalen Maßstab die Aufmerksamkeitsökonomie in die Hand bekommen. Was natürlich unkontrollierbar ist, ist das Auftreten von Amokläufern.

Wie definieren Sie Terrorismus?

Als Terrorismus kann man all jene Formen der Gewaltanwendung bezeichnen, in denen nicht wesentlich die physischen Effekte der Gewalt, sondern ihre psychischen Effekte zentral sind. Die physischen Zerstörungen sind nur ein Mittel, um wellenförmig Angst und Schrecken zu erzeugen. Wenn der Partisanenkrieg oder die Guerilla die wesentliche Form der Kriegführung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewesen ist, tritt in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts an dessen Stelle der Terrorismus.

Terrorismus ist eine der neuen Kriegsformen, die Sie in Ihrem Buch „Die neuen Kriege“ von 2002 beschrieben haben. Was ist das Kriegsziel des Terrorismus?

Unterscheiden wir zwischen Zielen und Zwecken: Ziel ist die psychische Verwüstung der westlichen Welt. Terroristen wollen in die labile psychische Infrastruktur unserer Gesellschaften eingreifen und darüber unterschiedliche Effekte erzielen: entweder Börsenbewegungen beeinflussen oder aber ungeheure wirtschaftliche Schäden dadurch anrichten, dass die Leute in urbanen Ballungszentren wie London nicht mehr mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fahren, sondern auf Privatfahrzeuge umsteigen. Damit erzeugen sie ein Verkehrschaos: Das Leben im ökonomischen Zentrum bricht zusammen, weil die Leute zu spät oder gar nicht zur Arbeit kommen. Das ist eine Variation des strategischen Bombenkriegs. Als Luftmarschall Harris nicht mehr die Produktionszentren angreifen ließ, sondern die Arbeitersiedlungen, hat das zu erheblichen Produktionsausfällen geführt, weil die Arbeiter zu Hause beschäftigt waren, die Schäden aufzuräumen.

Und was ist langfristig der Zweck des modernen Terrorismus?

Muslimischen Terroristen geht es darum, einen in sich geschlossenen politisch-kulturellen Raum der islamischen Welt herzustellen – als alternativen Entwicklungsweg zu dem dominierenden Weg, der vom „westlichen Kapitalismus“ vorgegeben wird.

Soll sich dieser Raum auch über Europa erstrecken?

Zunächst einmal geht es um den Raum von Marrakesch bis nach Südostasien. Die Frage, in welcher Weise Europa einbezogen wird, hängt auch von der demografischen Entwicklung ab.

In 20 Jahren kommt jedes zweite Berliner Kind aus einer Migrantenfamilie …

Würde hier der muslimische Bevölkerungsanteil dramatisch anwachsen, dann wird mit einiger Sicherheit Europa zu einem Bestandteil dieses imaginierten Raumes „islamische Welt“. Das muss man aber in der gegenwärtigen Situation nicht dramatisieren. Eine andere Frage ist, ob dieser Gegenentwurf überhaupt trägt: Die Islamisten wären nicht dazu in der Lage, die sozialökonomische Struktur zu organisieren. Der Zweck ist wohl unerreichbar. Aber die Ziele, also die Ermattung und Verwüstung, das funktioniert relativ gut.

In Deutschland klingt die Verunsicherung, die nach großen Terrorakten um sich greift, schnell wieder ab. Sollten wir uns mehr Sorgen machen?

Nein, das Abklingen der Angst ist eine Verteidigungshaltung, die ich als mürrische Indifferenz bezeichnen würde. Wir nehmen ja auch die Gefahr, bei einem Auto- oder Fahrradunfall umzukommen, als Kollateralschaden unserer Lebensform mit in Kauf. Allerdings haben Autounfälle in der Regel nicht diese mediale Resonanz. Der Terrorismus funktioniert dadurch, dass der Anschlag an die kommunikative Infrastruktur hoch entwickelter Gesellschaften andockt. Dadurch, dass das in Echtzeit über die audiovisuellen Medien mit einer sehr hohen Eindringdichte in unser Bewusstsein gelangt, beeindruckt es uns nachhaltig. Da war natürlich der 11. 9. die fundamentale Veränderung. Der Angriff auf diese beiden großen Türme steht für die Desymbolisierung der amerikanischen Unangreifbarkeit – und diese Bilder werden in den Medien ständig wiederholt.

Der RAF-Terrorismus zielte auf das bundesrepublikanische Gesellschaftssystem, heute geht der Terror, der den Westen bedroht, von transnational agierenden Islamisten aus. Ist unser Rechtssystem dieser Herausforderung gewachsen?

Das glaube ich schon, auch wenn man hier und da die eine oder andere Stellschraube nachziehen müsste. Das fundamentalere Problem ist die organisatorische Struktur von Polizei und Geheimdienst. Da hat man ja in der letzten Zeit versucht, zwischen den Landeskriminalämtern und den Landesämtern für Verfassungsschutz, der Bundesebene und der europäischen Ebene Kanäle zu verdichten. Am Umzug des Bundesnachrichtendienstes nach Berlin zeigt sich allerdings eine eigentümliche Blockierung. Dort bekommen föderalistische Interessen eine ganz erstaunliche Bedeutung: Nicht die Effektivierung des Dienstes steht im Mittelpunkt, sondern der Umstand, dass 1500 Arbeitsplätze in Pullach bleiben sollen.

Welche Bürgerrechte darf der Staat einschränken, um die Bürger vor Terrorismus zu schützen?

Wenn die Zellen in der Anonymität von Großstädten verschwinden, kann man nur mit bestimmten Formen der Informationszusammenführung Raster bekommen, um diese getarnten potenziellen Terroristen zu erkennen. Da muss der Datenschutz, der ja in einer Euphorie über informationelle Selbstbestimmung sehr weit ausgedehnt worden ist, auch Einschränkungen hinnehmen. All diese Maßnahmen müssen natürlich einer politischen Kontrolle unterliegen, die aber im Geheimen tagt. Unsere Vorstellung, alles müsse öffentlich sein, funktioniert nur, wenn es keine Akteure gibt, die das Geheimnis in eine strategische Ressource verwandeln. Genau das ist beim Terrorismus aber der Fall.

Werden auch wir bald einen „hausgemachten Terrorismus“ haben?

In dem Maße, in dem die westliche Lebensform als etwas von Grund auf Verwerfliches erscheint, wächst die Wahrscheinlichkeit, dass sie mit aller Entschlossenheit – bis hin zur Dreingabe des eigenen Lebens – bekämpft wird. Die Herausforderung besteht darin, dass Polizei und Verfassungsschutz solche Entwicklungen frühzeitig erkennen. Die lassen sich durch bestimmte Sozialkontakte, durch das Aufsuchen bestimmter Orte in begrenztem Maße identifizieren.

Hat die Integrationspolitik versagt?

Die Beispiele in Großbritannien haben gezeigt, das die Akteure in die britische Gesellschaft integriert waren. Die Vorstellung, man könne mit einer flächendeckenden erfolgreichen Integrationspolitik dem Terrorismus das Wasser abgraben, ist ein Tranquilizer für die Öffentlichkeit. Integrationspolitik ist wichtig, aber man sollte sie nicht an die Frage der Terrorprävention anknüpfen. Denn sonst wird man die Integrationspolitik unter Druck setzen, wenn es doch Anschläge und gerade aus den integrierten Milieus gibt.

Das Gespräch führte Amory Burchard.

Zum Start der Akademievorlesungen über „Die Herausforderungen des Rechtsstaats durch den Terrorismus“ spricht Herfried Münkler am 1. Juni um 18.30 Uhr in der Jägerstraße 22/23 (Berlin-Mitte) über die Strategie des Terrorismus und Abwehrmöglichkeiten. Am 8. Juni spricht Regina Ogorek (Universität Frankfurt am Main) über „Justizgewährung und Rechtsgewährung aus historischer Sicht“.

Herfried Münkler (54) ist Professor für Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin und eröffnet am 1. Juni die Berliner Akademie-Vorlesungen über Terrorismus.

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