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Gesundheit: Wir sind von Kopf bis Fuß auf Flucht eingestellt

Von Rolf Degen Evolutionsbiologen porträtierten den frühen Menschen lange Zeit als martialischen „Killeraffen“, der seine räuberische Intelligenz nur entwickelte, um aus seinen Mitgeschöpfen Futter zu machen. Doch jetzt enthüllt der Blick in die ferne Vergangenheit plötzlich ein ganz anderes Bild: Das eines gehetzten Flüchtlings nämlich, der seinen ganzen Scharfsinn aufbringen musste, um nicht zwischen den Zähnen eines hungrigen Fressfeindes zu enden.

Von Rolf Degen

Evolutionsbiologen porträtierten den frühen Menschen lange Zeit als martialischen „Killeraffen“, der seine räuberische Intelligenz nur entwickelte, um aus seinen Mitgeschöpfen Futter zu machen. Doch jetzt enthüllt der Blick in die ferne Vergangenheit plötzlich ein ganz anderes Bild: Das eines gehetzten Flüchtlings nämlich, der seinen ganzen Scharfsinn aufbringen musste, um nicht zwischen den Zähnen eines hungrigen Fressfeindes zu enden.

Nach einer Theorie hat Homo sapiens seine herausragende intellektuelle Leistungsfähigkeit vor allem deshalb ausgebildet, damit er die mentalen Anforderungen der kollektiven Jagd erfüllen konnte. Die Verständigung zwischen den Jägern und die Erzeugung der benötigten Werkzeuge setzten danach einen Entwicklungsschub voraus.

Doch offenbar muss der Spieß nun umgedreht werden: Die Angst, möglicherweise auf der Speisekarte mörderischer Raubtiere zu stehen, hat demnach unseren Intellekt und unserer Gefühle geprägt. Unsere defensive Vergangenheit macht nicht nur tief sitzende Ängste und Phobien verständlich; sie könnte sogar einige der größten geistigen Errungenschaften erklären.

Im klassische Szenario über die Menschwerdung fehlt nach Ansicht des kalifornischen Psychologen Richard Coss ein wichtiger Tatbestand: Als der frühe Mensch seine ersten aufrechten Schritte in der Savanne machte, wurde ihm schon bald von Raubfeinden nachgestellt – Hyänen, Löwen, Säbelzahntigern. So haben Forscher in südafrikanischen Höhlen, die vor ein bis drei Millionen Jahren von Raubtieren genutzt wurden, die fossilen Reste von 324 Pavianen und 140 Australopithecinen (frühen Vormenschen) entdeckt; die Knochen wiesen Kratz- und Bissspuren der großen Räuber auf.

Der Kot großer Raubtiere ist häufig mit den Überresten von Primaten durchsetzt. Und bei den Ache in Amazonien werden noch heute sechs Prozent aller jungen Stammesangehörigen von Jaguaren getötet.

Das Leben auf der Flucht lässt unweigerlich Spuren im Verhaltensrepertoire zurück. Neugeborene Babys zeigen noch heute den Moro-Reflex, der mit sechs Monaten verschwindet und an den Instinkt von Äffchen erinnert, die sich in brenzligen Situationen an das Fell der Mutter klammern.

Um weitere psychische Relikte auszugraben, schuf Coss eine virtuelle Rekonstruktion der afrikanischen Savanne inklusive eines Löwen. Als Fluchtpunkt kamen ein Felsblock, eine Spalte oder ein dorniger Baum in Frage. Bereits Vorschulkinder zogen sich instinktiv entweder auf den Baum oder in die Spalte zurück: Als wüssten sie, dass der Felsblock eine Falle ist, weil sich der typische Löwe gerne auf Felsblöcken sonnt.

Auch der kalifornische Anthropologe Clark Barrett glaubt, dass unser Seelenleben archaische Spuren der Raubfeind-Abwehr trägt. „Tierphobien sind zum Beispiel viel häufiger als Ängste vor Autos, obwohl die Gefahr, durch einen Autounfall getötet zu werden, in der modernen Welt viel größer ist.“ Schon kleine Kinder haben einen unstillbaren Appetit auf Informationen über gefährliche Tiere; Barrett nennt dies das „Jurassic-Park-Syndrom.“

Wie tief die Raubfeind-Abwehr sitzt, zeigt sich auch daran, dass bereits Dreijährige „Denksportaufgaben“ besser lösen, wenn man sie in Begriffen von Räuber und Beute formuliert. In einem Experiment können Kinder verfolgen, wie eine Puppe Süßigkeiten aus einer Schachtel entfernt und an einer anderen Stelle versteckt. Dann werden sie gefragt, wo ein andere Puppe, die den Vorgang nicht sehen konnte, nach den Süßigkeiten suchen wird. Dreijährige können sich noch nicht von ihrer eigenen Wahrnehmung lösen und zeigen flugs auf das für Ahnungslose nicht nachvollziehbare neue Versteck. Doch als Barrett die gleiche Geschichte statt mit Puppen mit einem Löwen und einem Zebra wiederholte, fiel bei vielen Kindern der Groschen, und sie versetzen sich in die Rolle des ahnungslosen Tiers hinein.

Bisher nahm man an, dass der Mensch die Fähigkeit zur Wahrnehmung fremder Perspektiven entwickelte, weil sie ihm beim Leben in Gruppen half. Es ist aber auch möglich, meint Barrett, dass der Mensch das Einfühlungsvermögen lernte, weil es ihm beim Überlisten der Raubtiere behilflich war. Vielleicht hat er die Fähigkeit erst im Nachhinein auf die eigene Spezies angewandt. Experimente führten bisher auch zum Schluss, dass Dreijährige noch keine Vorstellung vom Tod als dem endgültigen Verlust des Lebens besitzen. Doch als Barrett drei- bis achtjährige Kinder aus verschiedenen Kulturen mit gespielten Begegnungen zwischen Raubtieren und Beute konfrontierte, sahen schon viele der Kleinsten die Endgültigkeit der Bedrohung für das Beutetier ein.

Selbst Werkzeuggebrauch und Sprache gehen womöglich auf die Raubtier-Abwehr zurück, behauptet der Primatologe Klaus Zuberbühler. Das Verhalten von Schimpansen, die Leoparden mit Stöcken und Steinen vertreiben, ist eines der frühesten Beispiele für Werkzeuggebrauch.

Tieraffen geben darüber hinaus genau definierte Alarmrufe von sich, mit denen sie vor bestimmten Raubfeinden warnen – eine erste Form von „referentiellem“ (auf die Außenwelt bezogenen) Sprachgebrauch.

„Wir stellen uns unsere prähistorischen Ahnen gerne als tapfere Jäger vor“, sagt die Primatologin Louise Barrett aus Liverpool. „Vermutlich haben sie sich die meiste Zeit in Höhlen versteckt.“

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