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Gesundheit: „Wissenschaftlich Spitze“

Jürgen Mittelstraß bescheinigt den deutschen Geisteswissenschaften ein großes Potenzial, verlangt aber mehr Mut zur Forschung

Herr Mittelstraß, seit 2000 war jeweils ein Jahr einer Naturwissenschaft gewidmet. Warum haben wir jetzt ein Jahr der Geisteswissenschaften?

„Jahr der Geisteswissenschaften“ klingt für mich ein wenig wie „Jahr des Zaunkönigs“. Ich glaube allerdings nicht, dass die Geisteswissenschaften vom Aussterben bedroht sind. Soll man also einfach für einen Wissenschaftsbereich werben, der im öffentlichen Bewusstsein heute eher vernachlässigt erscheint.

Manch einer hält die Metapher vom Aussterben für durchaus realistisch.

Es gibt Krisenphänomene. Wir sollten aber auch bedenken, dass es den Geisteswissenschaften zumindest quantitativ gesehen heute besser geht als je zuvor. Und auch das: Wissenschaftlich sind die Geisteswissenschaften in Deutschland Spitze, wissenschaftspolitisch ein Pflegefall.

Bundesbildungsministerin Schavan sagte jüngst, sie wolle keinesfalls dafür werben, ein geisteswissenschaftliches Studium zu beginnen, weil das ein soziales Risiko sei.

Wirklich? Ich habe den Eindruck, dass Geisteswissenschaftler nach wie vor gut unterkommen, ihr Betätigungsfeld ist weit und anspruchsvoll. Schwierig ist es lediglich, wie andernorts auch, eine dauerhafte Anstellung zu finden.

Dennoch ist immer wieder von einer Krise die Rede. Weshalb?

Ein Grund ist in der Regel der viel zu lange Ausbildungsweg ...

... wogegen die Umstellung auf das Bachelor-Master-Modell ja Abhilfe schaffen soll.

Ich halte von diesem Modell wenig, vor allem was die Geisteswissenschaften angeht. Es bedeutet Verschulung um jeden Preis. Da wäre längst wieder eher Deregulierung angezeigt.

Freiheit statt Rationalisierung?

Eher Rationalisierung durch Freiheit! Natürlich wäre es blauäugig, wenn wir das Konzept Wilhelm von Humboldts eins zu eins, unter den Bedingungen von Massenuniversitäten, wiederbeleben wollten. Wir brauchen klare Studienstrukturen. Doch so, wie sie heute eingeführt werden, greifen sie zu weit und zu tief. Die frühere Form des selbst organisierten Studiums muss noch immer möglich sein. Wir verhalten uns eher kontraproduktiv, wenn wir diejenigen, die ihr Studium in dieser Weise gestalten, gerade daran hindern.

Der Soziologe Ulrich Beck nannte die Bachelor-Master-Reform kürzlich den „Tod unserer Universität“.

Dieser Tod droht in der Tat, und wir sollten alles tun, dass er nicht eintritt. Diese Reform wendet sich gegen alles selbstständige Lernen, zumindest misstraut es diesem.

Gilt Ihre Beurteilung auch für die lehrenden Geisteswissenschaftler?

Ja. Lehre unter den neuen Bedingungen kann nur schlechter werden. Wir standardisieren alles und werden gezwungen, alle zwei, drei Semester dasselbe zu tun. Daraus kann keine Erfolgsgeschichte werden.

Ist die Einrichtung von „Forschungskollegs“ eine sinnvolle Alternative?

Ja! Wir müssen den alten Grundsatz der Einheit von Lehre und Forschung auch unter sich verändernden Bedingungen ernst nehmen, und dem trägt dieses Konzept Rechnung.

Zur Neugliederung der Fakultäten: Was halten Sie von der Zentralisierung der sogenannten „Kleinen Fächer“? Ist das nicht eine Abschaffung auf Raten?

Nein, ganz und gar nicht. Dass die kleinen Fächer gefährdet sind, ist auch das Resultat einer selbst verschuldeten institutionellen Partikularisierung ...

... die aber ja nicht nur für die Geisteswissenschaften gilt.

Sicher, aber die Geisteswissenschaften haben diese Entwicklung ins Extrem getrieben. Ein Professor gleich ein Institut: Das ist im Blick auf die moderne Wissenschaftsentwicklung einfach nicht mehr zeitgemäß. Ganz anders die Bildung von Zentren unter inter- und transdisziplinären Aspekten.

Auch auf Dauer?

Gerade auf Dauer! Fächer wie Byzantinistik oder Assyrologie werden nur von wenigen betrieben. Gleichwohl sind sie wichtig, und Zentren werden genau zu ihrem Schutz gebildet.

Die zunehmende Autonomie der Hochschulen hat Vor- und Nachteile. Aus Kostengründen werden immer häufiger geisteswissenschaftliche Fächer gestrichen. Wäre das bei staatlicher Aufsicht anders?

Ob eine Streichung sinnvoll ist oder nicht, hängt vom selbst gewählten Profil der jeweiligen Universität ab. Unabhängig davon haben die Geisteswissenschaften ein riesiges Organisationsproblem, und zwar mit sich selbst. Dass man die Stimme der Geisteswissenschaften kaum vernimmt, ist zu großen Teilen ein selbst verschuldetes Verstummen.

Liegt nicht die Krise darin, dass sich die Analyse eines Petrarca-Sonetts nicht so leicht in Kapital umsetzen lässt wie etwa die Entschlüsselung der DNA?

Tatsächlich genießen der Hirnforscher, der Insektenfreund und der Galaxienjäger größere öffentliche Aufmerksamkeit als etwa der Heine-Interpret oder der Mundartforscher. Trotzdem werfe ich den Geisteswissenschaftlern vor, dass sie sich noch immer geradezu kokett auf Forschen in „Einsamkeit und Freiheit“ berufen; dass Teamarbeit auch bei ihnen etwas bringt, haben sie noch kaum entdeckt.

Liegt das nicht im Wesen der Geisteswissenschaften begründet?

Nur sehr bedingt. Archäologen etwa arbeiten längst mit naturwissenschaftlichen Methoden, die Psychologie ebenso. Die Vorstellung vom genialischen Geisteswissenschaftler, der ständig in irgendwelchen Archiven verschwindet, ist zu einseitig. Dass die Geisteswissenschaften bisher in der Exzellenzinitiative eher schlecht weggekommen sind, liegt auch daran, dass sie sich kaum auf die gegebenen Fördermodelle einlassen: Die Deutsche Forschungsgemeinschaft bietet händeringend Forschergruppen und Sonderforschungsbereiche an, aber diese Angebote werden nur selten ergriffen. Manchmal habe ich den Eindruck, die Geisteswissenschaften leiden an einer Lust am Untergang.

Die äußeren Widerstände sehen Sie nicht?

Die sind natürlich da, und sie sind nicht gering. So trifft die derzeitige Tendenz zur Ökonomisierung aller Verhältnisse die Geisteswissenschaften am härtesten. Dennoch sollten sie einfach viel selbstbewusster auftreten und nicht in einer Aschenputtelrolle verharren, in die sie sich fast freiwillig begeben haben.

Herr Mittelstraß, Sie selber sind Philosoph. Würden Sie unter den heutigen Bedingungen wieder ein geisteswissenschaftliches Studium beginnen?

Natürlich! Man sollte immer das studieren, woran man ein echtes Erkenntnisinteresse hat. Und dass ein geisteswissenschaftliches Studium heute perspektivlos wäre, ist einfach Unsinn. Sicher. Deshalb sollte man eine klare Vorstellung dessen haben, was man will, und sich nicht erst mit 40 überlegen, ob man zum Beispiel an der Universität bleiben möchte. Das setzt auch ein zügiges Studium voraus. Dies lässt sich noch immer in vier, und eine Promotion in zwei Jahren schaffen. Dabei darf man allerdings nie den Blick über den fachlichen Tellerrand verlieren, denn die Gefahr der extremen Spezialisierung ist heute größer denn je. Zwar gibt es den klassischen Universalgelehrten nicht mehr, aber ohne eine vernünftige Balance von Spezialisierung und Universalisierung geht nichts, schon gar nicht in den Geisteswissenschaften.

Das Gespräch führte Konstantin Sakkas.

Jürgen Mittelstraß (70) ist emeritierter Professor für Philosophie an der Uni Konstanz, Präsident der Academia Europaea in London und leitet den Österreichischen Wissenschaftsrat.

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