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Gotthard-Durchstich: Der längste Tunnel der Welt ist durchstochen

Am Freitagnachmittag um 14.17 Uhr fielen die letzten Gesteinsbrocken im Gotthard-Tunnel, ein Jahr früher als geplant. Kein Demonstrant stört dieses Großprojekt. Es erfüllt die Schweizer mit Stolz.

Heinz Ehrbar hört weg. Dieses Quietschen, dessen Lärmpegel jenseits jeder Arbeitsschutzbestimmung liegt, bemerkt er gar nicht. Routiniert sieht Ehrbar auch über das Schild hinweg, das davor warnt, es könne lauter werden als 130 Dezibel. Ihn stören nicht die Schläge aufs Fahrwerk, das ständige Ruckeln des ganzen Zuges. Ehrbars Körper ruht fest auf einer Holzplanke. Breitbeinig nach vorne gebeugt sitzend, die Unterarme auf den Oberschenkeln aufgelegt, federt Ehrbar alle Stöße des Lorenzuges ab. Heinz Ehrbar ist die Ruhe selbst. Ihm bleiben noch sieben Jahre, um sein Werk zu vollenden.

Der Zug ist nicht der, der später mit mehr als 200 km/h durch dieses Loch rasen soll. Dieser Zug hier soll Werkzeug auf dem Hinweg und Geröll auf dem Rückweg befördern. Aber weil der Weg vom Betreten der Baustelle bis zum Einsatzort mehr als vier Kilometer lang ist, wurde der Materialzug umgerüstet, damit die Bauarbeiter rasch zu ihrer Arbeit kommen. Auf eine besondere Federung legen die hartgesottenen Männer, die im Dreischichtbetrieb rund um die Uhr arbeiten, keinen Wert.

Wer rein will, muss zunächst einen Fragebogen ausfüllen und unterschreiben. In das letzte Kästchen muss die Telefonnummer eines Angehörigen eingetragen werden. Die Frage ist eine Erinnerung daran, dass dies keine normale Baustelle ist. Aber wer den Bogen nicht ausfüllt, bekommt auch keinen roten Overall, keinen Helm, keine Grubenlampe, keine Gummistiefel und vor allem keinen Rettungsrucksack mit Atemschutzgerät. Auf dem ist eine Chipkarte befestigt. Und ohne die kommt man schon gar nicht rein.

Es sei denn, man heißt Heinz Ehrbar. Als verantwortlicher Ingenieur hat Ehrbar immer und überall Zutritt zur weltweit größten Baustelle. 57 Kilometer ist sie lang, und es sind eigentlich fünf Baustellen. Seit 14 Jahren wird gebaut, am heutigen Freitag wird gefeiert, der Durchstich. In sieben Jahren soll auch der Ausbau fertig sein. Dann steht der heute 54-Jährige kurz vor der Rente. „Es war ein Zufall, dass ich zum größten Tunnelbauvorhaben der Welt gespült wurde. Und es war eine einmalige Sache."

Der heutige Freitag ist im Grunde wichtiger als der endgültige Abschluss. Heinz Ehrbar wird ihn als großen Tag in seinem Leben verbuchen können. An diesem Tag wollen sich zwei Bautrupps treffen. Eine Mannschaft bohrt sich von Faido her im Süden mit einer gigantischen Maschine von knapp zehn Metern Durchmesser durch das Gotthardmassiv nach Norden, eine zweite sprengt und gräbt sich von Sedrun her in Richtung Süden. 2500 Meter unter der Spitze des Piz Vatgira wollen sich die Tunnelbauer die Hand geben. Von diesem Tag an gibt es eine direkte Verbindung durch das massive Gebirge – ein Loch in den Alpen.

Noch nie wurde ein so langer Tunnel gebaut. Es hat Zweifler gegeben, die das Projekt für technisch nicht machbar hielten. Unbezahlbar werde das Vorhaben, warnten Kritiker. Es gab eine Volksabstimmung, die Schweizer waren für den Tunnelbau. Damit es nicht am Geld scheitert, sollten die den größten Teil des Bauwerks bezahlen, die dafür verantwortlich sind, dass er nötig geworden ist: die Spediteure.

Doch es gab auch Bedenken in technischer Hinsicht. Zu kompliziert sei das Terrain, warnten Geologen vor dem aufgefalteten Gebirge, mit Formationen, die aus zerriebenem Gestein bestehen und die Konsistenz von Zucker haben. Diese Störzone zu festigen werde nicht gelingen, weder mithilfe von Beton noch durch Vereisung, was erwogen wurde. 25 Millionen Tonnen Gestein wurden am Ende aus dem Bergmassiv gebrochen. Um die 13,3 Millionen Kubikmeter wegzufahren, wurden fast 45000 Güterwaggons beladen.

Das Volumen würde reichen, um fünf Cheopspyramiden aufzuschütten. Am Gotthard haben sie ein Tal aufgefüllt, einen Berg modelliert und im Vierwaldstättersee kleine Inseln geschaffen.

Wer die Dimension des Projektes bedenkt, kann Schwindelanfälle bekommen. Heinz Ehrbar sagt, er habe solche Bedenken nie gehabt. Respekt vor der Aufgabe ja, aber mehr nicht. Kann man das glauben? Bei dieser Aufgabe? Bei einem Projekt mit Baukosten in Höhe von mehr als zehn Milliarden Franken? Bei einer Bauzeit von mehr als 20 Jahren? Haben Sie da nie unruhig geschlafen, Herr Ehrbar? „Nein“, sagt der Ingenieur knapp und gibt eine verblüffend einfache Erklärung. „Ich habe mich immer mit unseren Kritikern auseinandergesetzt, und genau das hat mir meine Sicherheit gegeben.“ Er habe sich viele Abende um die Ohren geschlagen und fast keine Podiumsdiskussion der Gegner ausgelassen. „Wir haben alle ihre Aufsätze studiert und haben uns alle Einwände angehört.“ In langen Nächten seien Berechnungen überprüft und Pläne neu gezeichnet worden. „Die Kritik der Gegner inhaltlich ernst zu nehmen und nüchtern prüfen ist der beste Schutz davor, etwas zu übersehen“, sagt Ehrbar. „Und es gibt Sicherheit.“ Fehler seien unvermeidbar. Aber vermeidbare Fehler dürfe man nicht machen.

Der Zug hat angehalten, jetzt heißt es umsteigen, um in die Tiefe des Bergs vorzustoßen. Bevor Ehrbar weitererzählt, muss er eine Pause einlegen. In dieser saust ein Korb mit einer Geschwindigkeit von zwölf Metern pro Sekunde senkrecht in den Berg. Die Ohren gehen zu, in der Dunkelheit sieht man Felswände vorbeirasen, durch die kleinen runden, tiefschwarzen Löcher im Boden zieht feucht-warme, leicht staubige Luft. Gut eine Minute später und 800 Meter tiefer sagt Ehrbar über das Stahlseil, an dem der Korb hängt: „Das ist unsere Nabelschnur.“ Durch dieses Loch und mit diesem Seil wurden in den 14 Jahren Bauzeit Maschinen, Sprengstoff und Menschen abgelassen und Millionen Tonnen Gestein an die Oberfläche gezogen. Bergarbeiter aus Südafrika haben das Loch senkrecht in den Berg getrieben, als man die Sohle erreicht hatte, sprengten sich die Mineure waagrecht nach Norden und Süden. „Nach 300 Meter merkten wir, dass wir eine massive Abweichung haben“, sagt Ehrbar. Das wurde korrigiert.

Es ist die komplizierteste Baustelle, die man sich vorstellen kann. Nur am Nord- und Südportal bohrten sich die Bauarbeiter auf der Trasse direkt in den Berg, bei Amsteg und Faido gruben sich die Bauarbeiter horizontal bis zur Trasse in den Berg vor, in Sedrun drangen sie zuerst waagerecht ein, dann senkrecht runter.

Zwischenangriff nennen die Schweizer diese Löcher, und in der Tat handelt es sich ja um eine Art Angriff auf den Berg. „Wir haben den Berg bezwungen“, sagt Heinz Ehrbar schon jetzt, wenige Tage vor dem großen Ereignis. Aber er hat nicht den Piz Vatgira in der Vertikalen bezwungen wie ein Bergsteiger, er hat ihn hier unten besiegt, 550 Meter über dem Meer. Einfach durch Aare-Granit und Paradies-Gneis, durch altkristallinen Migmatit-Komplex, Dolomitmarmor und zuckerförmigen Dolomit. Bei 500 Höhenmetern rein, ansteigen bis 550 Meter, bei 500 raus. Flachbahn nennt sich das dann.

Unten angekommen blickt Ehrbar auf die Wand aus Stein. Man hat noch ein Stück Fels vor sich und man sieht ihm nicht an, wie dick er noch ist, wie nah die Männer auf der anderen Seite schon sind. „Die wollen es wissen“, sagt Ehrbar. Üblich sind zwei bis drei Anschläge pro Tag. Ein Anschlag, das heißt: 120 Löcher bohren, drei Meter tief, mit Dynamit füllen, sprengen, Gestein wegräumen. Drei Meter bringt ein Anschlag die Arbeiter voran.

Der Tunnel durch das Gotthardmassiv soll die Schweizer Bürger und Berge davor bewahren, unter die Räder kommen. Durch den Gotthard-Basistunnel sollen nicht nur Hochgeschwindigkeitszüge rasen und die Reisezeit zwischen Zürich und Mailand von vier Stunden zehn Minuten auf zwei Stunden vierzig Minuten senken. So soll die Bahn im Wettbewerb mit dem Luftverkehr wieder konkurrenzfähig werden. Dabei wird in keinem Land der Erde schon jetzt so viel Bahn gefahren wie in der Schweiz. Entscheidender aber sind die Güterzüge, die hier fahren sollen. So wollen die Bahnen Kosten und Zeit sparen und als Alternative zum Straßentransport noch attraktiver werden. Heute befördert die Schweiz 61 Prozent der Güter auf der Schiene, in Deutschland sind es rund zehn Prozent. Den Steuerzahler kommt das Projekt trotz LKW-Maut teuer zu stehen. Die Schweizer hadern nicht mit ihrem Großprojekt, es erfüllt ihre Seele mit Stolz. Dafür zahlen sie und arbeiten. So schnell, dass sie beim Bau ein Jahr vor der Zeit sind. Wer bedächtig plant, die Kritiker einbindet, das zeigen die harmoniesüchtigen Schweizer, der ist am Ende schneller.

Franz Schmider

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