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Ikone: Russland streitet um Stalin

In einem St. Petersburger Vorort hing eine Ikone von besonderer Art: Hunderte sollen sich vor einem Bildnis Josef Stalins bekreuzigt haben.

Warum der Maler wohl die Tabakspfeife unterschlagen habe, die sonst auf keinem Stalin-Bild fehlt, fragte sich, rein rhetorisch, Alexander Budnikow. Er ist im Moskauer Patriarchat der orthodoxen Kirche für Missionstätigkeit zuständig. Die Attacke des Klerikers galt einer Ikone der besonderen Art, die seit Ende Juli in einer Kirche im St. Petersburger Vorort Strelnja hängt. Das Bild zeigt den Generalissimus, der von der Heiligen Olga den Segen empfängt.

Diese Großfürstin von Kiew ließ sich bereits 955 und damit 33 Jahre vor Enkel Wladimir taufen, unter dessen Herrschaft Russland offiziell zum Christentum übertrat. Die russisch-orthodoxe Kirche stellte sie dafür bei der Heiligsprechung 1547 den zwölf Aposteln im Rang gleich. Als im Winter 1941 die Schlacht von Moskau tobte, soll Olga als Schutzherrin der Stadt auch Stalin erschienen sein. Eben dieser Legende folgt auch die Ikone, eine Mischung aus sozialistischem Realismus und streng byzantinischer Ikonografie, die Perspektive als Teufelszeug verunglimpft: Olga sitzt vor dem Hintergrund der Basilius-Kathedrale auf dem Roten Platz auf einer Fensterbank, der Diktator im grünen Militärmantel und mit Stiefeln im Vordergrund stürmt aus dem Raum und zeigt ihr dabei die Kehrseite.

Die orthodoxe Kirche, die sonst wegen Lappalien einen Sturm entfacht, brauchte mehr als vier Monate, um das Machwerk als Gotteslästerung zu kritisieren. Bevor es dieser Tage in der Krypta verschwand, die der Öffentlichkeit nicht zugänglich ist, hatten sich Hunderte vor dem Bildchen bekreuzt und sich wundertätige Wirkung versprochen. Denn aufgehängt hatte es Ende Juli der Pope höchstpersönlich: Jewstafi Schakow. Der bezeichnete Stalin Medien gegenüber als seinen geistigen Ziehvater, dessen Heldentaten er in seinen Predigten würdige, „wann immer es angeht“.

Woher die Ikone stammt, will Metropolit Wladimir, der Oberhirt von Vater Jewstafi jetzt bei einem Disziplinarverfahren klären. Dringend tatverdächtig sind die Kommunisten. Die Petersburger Regionalorganisation der KP, die 10 000 Kopien drucken ließ und in ihrer Zentrale verkauft, hatte, kaum dass die Ikone in der Kirche hing, vom Patriarchat die Heiligsprechung des Diktators verlangt. Stalin, so der Petersburger KP-Chef Sergej Malinkewitsch, habe sich für soziale Gerechtigkeit engagiert und sei daher ein Geistesverwandter von Jesus. Etwaige Sünden, so sie nicht ohnehin auf das Konto seines Gegners Leo Trotzki gingen, mit dem Stalin Anfang der Zwanziger um die Macht kämpfte, hätten die Russen ihm wegen seiner historischen Leistung im Zweiten Weltkrieg längst vergeben. Darunter auch die Ermordung von rund 200 000 Geistlichen. Die Kanonisierung Stalins wäre daher der erste Schritt zur nationalen Aussöhnung und zum „gemeinsamen Wirken kirchlicher und linksnationaler Kräfte zum Wohle Russlands“.

Daran, sagte Malinkewitsch erst am Donnerstag, als der Skandal seinen vorläufigen Höhepunkt erreichte, halte die KP nach wie vor fest. Der KP-Funktionär begründete dies auch mit den Ergebnissen einer Internetabstimmung: Gesucht wird die historische Persönlichkeit, deren Name künftig als Synonym für Russland stehen soll. Bei dem vom staatlichen Fernsehen auf den Weg gebrachten Projekt, das noch bis Jahresende läuft, rangiert Stalin momentan unter den ersten fünf. Im Sommer war er sogar Spitzenreiter. Die Zaren Peter I oder Katharina II, die im postkommunistischen Russland als Lichtgestalten ohne Fehl und Tadel gehätschelt werden, hatten das Nachsehen, bis der Kreml in bewährter Manier überzeugende Mehrheiten für sie organisierte – durch Flash Mobs staatsfrommer Jugendorganisationen.

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