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Sobald das Eis auf dem Rideau-Kanal dicker als 30 Zentimeter ist, wird es für Schlittschuhläufer freigegeben.

© Lars von Törne

Kaltes Kanada: Auf Schlittschuhen ins Büro

In Ottawa gibt es die längste innerstädtische Eislaufbahn der Welt. Für viele Kanadier hat das einen ganz praktischen Nutzen. Die Leute fahren mit Schlittschuhen zur Arbeit.

Die Ersten machen sich bei Sonnenaufgang auf den Weg. Es ist kurz nach 7 Uhr in Kanadas Hauptstadt Ottawa, da hört man am Rideau-Kanal im Regierungsviertel schon das typische Knirschen und Kratzen. Auf der zugefrorenen Wasserstraße, die fast sieben Kilometer lang durch die Innenstadt führt, sieht man sie heransausen: Männer und Frauen auf Schlittschuhen. Am Ende ihrer Fahrt lassen sie sich auf eine der auf dem Eis bereitstehenden Bänke fallen, holen die Straßenschuhe aus dem Rucksack, tauschen diese gegen die Schlittschuhe – und auf geht’s ins Büro.

„Von meiner Wohnung aus brauche ich nicht mal 15 Minuten, um auf Schlittschuhen hierherzukommen“, sagt Monique Ng, die gerade angekommen ist und als Buchhalterin bei der kanadischen Bundesregierung arbeitet. Ihre Wangen sind gerötet von dem morgendlichen Sprint bei minus zehn Grad Celsius. Monique Ngs Büro befindet sich in einem der grauen Hochhäuser, die man vom Kanal aus sieht. Zu anderen Jahreszeiten läuft sie oder fährt mit dem Fahrrad zur Arbeit: „Aber jetzt, wo die Gehwege teilweise meterhoch mit Schnee bedeckt sind, kann man das vergessen.“ Und dieses Gefühl, morgens aufs Eis zu steigen und in den Tag hineinzugleiten, das sei schon etwas ganz Besonderes.

Hinter ihr an einer Brücke hängt ein Schild, auf dem steht: „World’s largest skating rink!“ – längste Eislaufbahn der Welt. Im Guinness-Buch der Rekorde kann man nachlesen, dass sie mit ihrer Länge von 7,8 Kilometern der Fläche von 90 Eislauf-Arenen mit olympischem Standard entspricht – 165 000 Quadratmeter Eis. Es gibt zwar, auch das steht im Guinness-Buch, seit 2014 in Westkanada eine noch längere registrierte Eislaufstrecke, den Lake Windermere Witeway in British Columbia. Der gilt aber formal nicht als „Skating rink“, sondern nur als „Skating trail“ – Ottawa bleibt also Rekordhalter in seiner Disziplin.

„So bekomme ich meinen Frühsport und es ist angenehmer, als im überfüllten Bus zur Arbeit zu fahren“, sagt Bill Wolfenden. Er kommt kurz nach Monique Ng angesaust, trägt eine grün-schwarz gestreifte Mütze und einen schwarzen Wintermantel über dem Anzug. Seine Wohnung ist fünf Kilometer flussaufwärts, an einem See namens Dow’s Lake, 25 Schlittschuhminuten. Dort findet an diesem Wochenende auf dem Eis ein großes Drachenbootfestival statt – eine der Attraktionen des Festivals „Winterlude“, mit dem die Fördergesellschaft Ottawa Tourism (die auch den Tagesspiegel bei diesem Besuch unterstützt hat) im Winter für die Hauptstadt wirbt und als dessen Hauptattraktion die Eislaufbahn gilt. Bis zu eine Million Besucher werden hier jedes Jahr gezählt – je nachdem, wie lange die Eissaison dauert.

Neben Bill Wolfenden landet jetzt sein Kollege Bob Gauthier auf der Bank: Helly-Hansen-Jacke, Skibrille, Schneehosen. Bei ihm dauert der Wechsel von Eis- zu Straßentauglichkeit nur Sekunden: Er hat, wie viele hier, moderne Cross-Country-Eislaufschuhe, an denen man nur die Kufen abnimmt, um dann die wenigen Meter ins Büro zu laufen, wo eine dienstliche Kleidergarnitur auf ihn wartet.

Winter-Alltag

Für viele Kanadier gehört der Lauf übers Eis zum Winter-Alltag. Sie wachsen damit auf, dass die Baseball- und Fußballplätze ihres Viertels bei Frostbeginn mit Brettern umzäunt und geflutet werden, sodass sich eine Eisschicht bildet – fertig ist die Eishockey-Arena. Wer sich mit wackligen Knien als Besucher auf den zugefrorenen Rideau-Kanal begibt und rechts und links von Eisläufern jeden Alters im Profistil überholt wird, merkt schnell, dass diese Fortbewegung hier für viele ganz selbstverständlich ist.

Nach den morgendlichen Büro-Eisläufern kommen die Schulklassen – und die Touristen. „Wir sind für eine Woche aus New York zu Besuch“, erzählt John Tabak, der gerade seine Schlittschuhe festzurrt. Der Autor und seine Frau Gail haben daheim von der Eisbahn gehört, also haben sie sich ein Hotelzimmer unweit des Kanals gemietet und sind jetzt jeden Tag mehrere Stunden auf dem Eis unterwegs. Ebenso Chris und Kevin Reid, ein Rentner-Ehepaar aus Toronto, 450 Kilometer südwestlich gelegen. Dort gebe es zwar kleine Eisbahnen, aber nichts Vergleichbares. „Früher sind wir immer mit unseren Kindern zum Eislaufen hierhergekommen“, erzählen sie. „Jetzt setzen wir die Tradition zu zweit fort.“

Dazu gehört für die beiden nicht nur der tägliche 15-Kilometer-Eislauf von der City ans Ende des vom Schnee befreiten Kanalabschnitts und zurück, der an Regierungsbauten und Parks, Wohnvierteln und der Universität von Ottawa vorbeiführt. „Dazwischen gibt’s Beaver Tail“, sagt Chris Reid. Biberschwanz – so heißen die flachen, länglichen Hefeteigtaschen, die in Holzbuden entlang der Eislaufstrecke frisch zubereitet werden. Sie werden wie ein Pfannkuchen in siedendem Fett ausgebacken und dann mit Zimt und Zucker, Ahornsirup oder Knoblauch und Käse bedeckt. Fast ebenso lang wie die Schlangen vor den Beaver-Tail-Buden sind auf dem Rideau-Kanal die Schlangen vor den Poutine-Buden: Grob geschnittene und doppelt frittierte Pommes frites mit Bratensauce und Cheddar-Käsekrümeln sind eine der Spezialitäten von Québec, der frankophonen Provinz, die hier an das anglophone Ontario grenzt.

Nachts, wenn auf dem Eis wenig los ist, kommen Mitarbeiter der National Capital Commission, jener Behörde, die für die Pflege von Parks und Anlagen wie dem vor 185 Jahren geschaffenen Rideau-Kanal zuständig ist. Sie räumen den Schnee beiseite und pumpen regelmäßig Wasser aus dem Kanal auf die Oberfläche des Eises, so ist die Laufbahn morgens wie frisch poliert. „Ab 30 Zentimeter Eisdecke ist es sicher – und wir haben im Moment 50 und mehr Zentimeter“, erklärt ein Mitarbeiter der National Capital Commission, der in seiner orangegelben Warnweste gerade Markierungen in leuchtenden Neonfarben auf dem Eis anbringt. Wofür die sind? „An diesem Wochenende spielen hier 150 Eishockey-Teams gleichzeitig“, sagt er. Eine von vielen Aktionen, mit denen Kanada in diesem Jahr seinen offiziellen 150. Jahrestag feiert: Am 1. Juli 1867 gründeten drei britische Kolonien die Kanadische Konföderation.

Eine Spezialität, die in Deutschland bei solchen Winter-Ereignissen dazugehört, findet man in Ottawa allerdings nirgendwo: Glühwein. Alkohol unter freiem Himmel ist in Kanada verboten.

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