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Panorama: Kriegerin des Karnevals

Die 21-jährige Dandan ist Tänzerin der Sambaschule Salgueiro – morgen Abend wird sie der Star im Sambodromo von Rio sein

„Candaces, Frauen, Kriegerinnen im Kampf um Gerechtigkeit und Freiheit, Königinnen und Herrscherinnen, möget ihr in Ewigkeit blühen.“ Wie jeden Samstag seit November singen und tanzen auch heute hunderte von Anhängern in der durchweg in Rot und Weiß gehaltenen Haupthalle der Sambaschule Salgueiro in Rio de Janeiro. Zusammen mit den von ihnen verehrten Musikern und Tänzern – den Sambistas – wiederholen alle immer wieder dieselben Strophen. Das diesjährige Lied für die große Karnevalsparade im Sambodromo muss sitzen, sonst wird es Punktabzug von den Preisrichtern geben, und Salgueiro droht in die zweite Sambaliga abzusteigen.

Am morgigen Montag wird es so weit sein. Dann tritt die Sambaschule Salgueiro mit ihrem riesigen Wagen im großen Sambodromo auf. Diese Form des Wettkampfes der Sambaschulen ist eine Besonderheit Rios. Jeder „Carioca“ – wie sich die Einwohner Rios nennen – identifiziert sich mit einer der Sambaschulen. Man ist nicht bloß Fan von Salgueiro, man sagt: „Ich bin Salgueiro!“ Weil in der Halle von Salgueiro alle mittanzen, verschmilzt die Gemeinschaft im dampfenden Rhythmus. Die Menschen scheinen für die Dauer eines Abends unberührt von der Gewalt, die in ihrem Viertel Tijuca droht, wie derzeit in allen Favelas, den Armenvierteln Rios.

Denn es geht die Angst vor Banden- und Bürgerkrieg um. Der junge neue Gouverneur Segio Cabral hat es sich zum Ziel gesetzt, die Drogenbanden, die jede Favela beherrschen, zu zerschlagen. Zusätzlich zu den staatlichen Milizen dringen daher neuerdings auch Sonderkommandos aus der Hauptstadt Brasilia stoßweise in die Favelas ein, was zu blutigen Gegenschlägen der Banden führt. Der Vizepräsident der Sambaschule Salgueiro ist am Mittwoch in seinem Auto erschossen worden. Wie fast allen Sambaschulen wird auch Salgueiro eine Verbindung zur illegalen Lotterie Rios nachgesagt. Die Spielmafia finanziert die Sambaschulen und wäscht so ihr Geld. Der Tod des Vizepräsidenten steht vermutlich in diesem Zusammenhang. In Rio ist die Stimmung vor dem Karneval leicht gedämpft.

Hier kann sich aber trotz der Gewalteskalation niemand vorstellen, dass der Karneval dieses Jahr nicht wie gewohnt stattfinden sollte. Die Menschen tanzen weiter auf den Straßen und in den Sambaschulen. Über die gemeinsame Tanzerfahrung entsteht ein einzigartiges Zusammengehörigkeitsgefühl. Die Tänzerinnen und Tänzer werden auf den Wagen der Paraden ihre Viertel repräsentieren, allen Sorgen zum Trotz.

„Hier in der Schule zählt nur der Samba. Wer beim Karneval mitmacht, mag Probleme haben und traurig sein, aber nach dem Karneval ist alles besser“, sagt Dandan. Die 21-Jährige, die wie alle anderen hier in dem Viertel Tijuca lebt, ist in ihrem zweiten Jahr bei Salgueiro. Zuvor arbeitete Dandan in Nachtclubs.

Dass sie es nun geschafft hat, professionelle Sambista in der Schule ihres Viertels zu werden, ist eine große Ehre für sie und ihre Familie. Sie wird dieses Mal sogar an der Spitze des Karnevalszuges der Schule tanzen. Das ist ein sozialer Aufstieg. Reich kann man bei Salgueiro nicht werden, aber glücklich: „Es ist schwer, doch Salgueiro ist für mich keine Arbeit, es ist ein Vergnügen.“ Dandan durfte sogar schon für Salgueiro nach Moskau reisen. Von Deutschland kennt sie bislang nur einige Aufbauhelfer, die in ihrem Viertel gearbeitet haben. „Die waren sehr interessiert an unserem Leben. Aber sie haben ganz komisch getanzt.“

So echt die Freude auf der Bühne sein mag, hinter den Kulissen wirkt Dandan eher nachdenklich, fast verschüchtert. Vielleicht wird ihr erst allmählich bewusst, dass sie Trägerin einer Idee ist. Die Sambistas zeigen, dass man es zu etwas bringen kann, wenn man sich für seinen Traum einsetzt. Zum anderen stehen sie, anders als beim „American Dream“, dafür, dass man nur mit Hilfe der Gemeinschaft aufsteigen kann, nur wenn diese Gemeinschaft zusammenhält und sich auch für den Einzelnen einsetzt.

So halten alle Sambaschulen „Feijoadas“ ab, große Volksküchen, bei denen ein traditionelles afrobrasilianisches Gericht aus schwarzen Bohnen und Fleisch serviert wird. Auch unterstützen sie arme Familien bei teuren Arztbesuchen und in anderen Notlagen. Umgekehrt ist Dandan der Stolz ihres Viertels und ihrer Schule.

Es scheint, als würde Dandan diese Idee wie eine Last tragen. Hier bei Salgueiro wird sie sehr geschätzt. Es stört Dandan, dass viele Mädchen nur zur Sambaschule wollen, um kurzzeitig berühmt zu sein. Die Präsentation des Körpers wird auf hedonistische Ziele verkürzt. „Es gibt sehr eigensinnige Frauen, die Schönheitsoperationen machen lassen, nur um einmal auf der Parade im Rampenlicht stehen zu können. Die Fernsehkameras betrachten nur die hübschesten Frauen, egal ob sie sich für die Gemeinschaft einsetzen oder nicht. “

Auch Carlinho, der Choreograf und Tänzer, der Dandan entdeckte und zu Salgueiro brachte, betrachtet die jüngsten Entwicklungen mit Sorge. Er kritisiert insbesondere den Egoismus der reichen Zuschauer, die seit der zunehmenden Privatisierung der Sambaliga bestimmen, wie es mit dem Karneval in Rio weitergeht. Die Veranstalter passen Regeln, Ablauf und vor allem die Berichterstattung an: „Die Gemeinschaft ändert sich, sogar unser Tanzstil ändert sich. Leider interessieren sich die Reichen nur noch für die Show, nicht mehr für den Gedanken dahinter. Die Armen sind nur etwas wert, wenn sie für die Bourgeoisie tanzen. Wenn der Karneval vorbei ist, kehren die Reichen zurück in ihre Viertel – nach Ipanema oder Copacabana –, ohne sich umzudrehen.“ Wenn sich die Sambistas auf dieses sinnentleerte Showgeschäft einlassen, so glaubt er, wird die soziale Bedeutung des Karnevals verlorengehen.

Carlinho ist dreiunddreißig Jahre alt und arbeitet bei Salgueiro, seit er siebzehn ist. Nun möchte Carlinho der Gemeinschaft auch etwas zurückgeben. Er möchte unentdeckte Talente finden, so wie er Dandan gefunden hat, und ihnen dabei helfen, den gleichen Weg gehen zu können. Die Eigensinnigkeit der Reichen, so glaubt er, lässt sich ebenso bekämpfen wie die des Schönheitskultes. „Wir sind mehr als nur knackige Hintern und schöne Mädchen, wir sind eine Kultur. Wenn wir tanzen, dann sind wir wer.“

Philip Küppers, Paul Bräuer[Rio de J]

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