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Panorama: Lebenslänglich für das Opfer

In der Türkei wehrt sich eine Schülerin gegen die Zwangsverheiratung mit ihrem Vergewaltiger

Erst die Lehrer schlugen Alarm. Als die elfjährige Ayse aus der fünften Klasse sichtbar schwanger zum Unterricht erschien, holten ihre Lehrer die Polizei und beendeten damit das schon seit zwei Jahren andauernde Martyrium des kleinen Mädchens, das sich auf seinen dicken Bauch selbst keinen Reim machen konnte. Seit sie zehn Jahre alt war, so stellte sich im Polizeiverhör heraus, wurde Ayse (Name geändert) in ihrem Heimatdorf im Südwesten der Türkei regelmäßig von einem benachbarten Bauern vergewaltigt und mit Todesdrohungen zum Schweigen gezwungen. Inzwischen wurde das Baby geboren und der Vergewaltiger verurteilt – und nun flehte die inzwischen 13-jährige Ayse ihre Lehrer an, ihr nochmals zu Hilfe zu kommen. Ihre Eltern wollen sie mit dem Vergewaltiger verheiraten – um ihm das Gefängnis zu ersparen und ihre eigene „Ehre“ zu retten.

„Kader“, Schicksal, heißt das Baby, das Ayse mit zwölf Jahren unter Qualen zur Welt brachte. Eine gerichtlich angeordnete DNA-Untersuchung ergab zweifelsfrei die Vaterschaft des angeklagten Bauern Ferit C., der seine Taten vor Gericht gestand. Zu 18 Jahren und sechs Monaten Gefängnis verurteilte das Gericht den 25-Jährigen wegen Vergewaltigung. Das Baby ließ der Richter in einem staatlichen Kinderheim unterbringen, und Ayse kehrte auf die Schulbank zurück. Lehrerin wolle sie werden, sagte sie ihren Erziehern an der Dorfschule.

Doch der Fall war für sie noch nicht erledigt. Dem Gesetz war zwar Genüge getan worden, doch auf dem türkischen Land gilt vielfach noch ein anderes, älteres Gerechtigkeitsempfinden: das Gesetz der Ehre. Die Ehre einer Familie wird demnach durch die Unkeuschheit eines weiblichen Familienmitglieds so unerträglich verletzt, dass ihre Angehörigen von ihrer Dorfgemeinschaft geächtet werden; ob die Jungfräulichkeit freiwillig oder unfreiwillig preisgegeben wurde, spielt dabei keine Rolle. Wiederhergestellt werden kann die Familienehre nach dieser unerbittlichen Tradition nur durch den Tod der „Sünderin“ – oder eben durch ihre Verheiratung mit dem verantwortlichen Mann.

Ayses Familie einigte sich deshalb mit der Familie des Vergewaltigers auf einen Handel. Das Mädchen sollte dem Täter zur Ehefrau gegeben werden, um die Ehre ihrer Familie zu reinigen. Im Gegenzug sollte Ferit C. ungestraft davonkommen, was das türkische Gesetz noch immer erlaubt: Nach dieser Vorschrift, die erst bei einer anstehenden Gesetzesreform aus dem Strafgesetzbuch getilgt werden soll, geht ein Vergewaltiger straffrei aus, wenn er sein Opfer anschließend ehelicht. Zwar hat Ayse das gesetzliche Heiratsalter noch nicht erreicht, doch sollte das mit frisierten Papieren und einer elterlichen Zustimmungserklärung umgangen werden. „Wir haben uns mit Ferits Familie geeinigt, haltet euch da raus“, sagte Ayses Vater zu türkischen Reportern. „So was kommt hierzulande öfters vor. Was geschehen ist, können wir auch nicht mehr ändern. Wir verheiraten unsere Tochter, um unsere Familienehre zu retten.“ Ähnlich verständnislos reagierte der Vater des Vergewaltigers auf die Fragen der Reporter. „Ja, es ist ein Unrecht geschehen, aber jetzt werden wir die zwei schnellstmöglich verheiraten und den Fehltritt ausmerzen“, sagte er. Nur Ayse selbst ist mit dem Handel nicht einverstanden und wandte sich in ihrer Not wieder an ihre Lehrer. „Dieser Mann hat mein Leben jahrelang zum Albtraum gemacht“, sagte sie. „Lasst nicht zu, dass sie mich mit ihm verheiraten.“

Ihren Lehrern ist es offenbar zu verdanken, dass der Fall nun von der verschwiegenen Dorfgemeinschaft an die türkische Öffentlichkeit gelangte – und dass Ayse deshalb, wenn alles gut geht, ihrem Schicksal doch noch entgehen könnte.

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