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Panorama: "Melancholie": Vor meinen Augen schwarze Tücher

Apathisch liegt der norwegische Maler Lars Hertervig in seinem lila Samtanzug auf dem Bett. Seine Gedanken kreisen nur da- rum, dass er seine geliebte Helene nicht mehr sehen dürfen soll.

Apathisch liegt der norwegische Maler Lars Hertervig in seinem lila Samtanzug auf dem Bett. Seine Gedanken kreisen nur da- rum, dass er seine geliebte Helene nicht mehr sehen dürfen soll. Ärmlich aufgewachsen in einer Fischerkate auf einer Insel vor Stavanger, hatte ihn ein Gönner 1853 zur Ausbildung an die Düsseldorfer Kunstakademie geschickt. Prompt verliebte er sich in die blonde, fünfzehn Jahre junge Hauswirtstocher. Natürlich konnte Helenes Onkel diese Leidenschaft nicht dulden und wies ihn aus dem Haus. Hertervig ist allerdings überzeugt, dass der Onkel seine Nichte nur für sich selbst will. Er hat seine Gedanken nicht mehr unter Kontrolle; er rastet aus. Es fehlen ihm die sprachliche Ausdrucksfähigkeit, Differenzierung und Reflexion, um seine Umwelt richtig deuten und auf sie reagieren zu können, und auch um seiner Gefühle Herr werden zu können. So bleibt er in seinen Sätzen gefangen. Er versteht nur, dass er zwei Dinge will: Helene und die Malerei.

Die Wirklichkeit in Fetzen

Aus seinem Zimmer vertrieben, flüchtet er mit einem Bekannten in eine Künstlerkneipe, wo seine Kommilitonen mit ihm ihre herzlosen Scherze treiben. Wahrscheinlich hatte er ihnen naiv erzählt, dass nun auch er ein Mädchen habe. Aber die Wirklichkeit dringt nur noch in Fetzen zu ihm. Halluzinationen überfallen ihn, er sieht schwarze Tücher und spricht mit sich selbst, oder wie er glaubt, mit Helene und seiner Schwester Elisabeth. Als er nochmals zu Helene in die Wohnung seiner Vermieter zurückkehrt, ruft der Onkel die Polizei.

Soweit das erste Kapitel von "Melancholie" diesem atemberaubenden Roman von Jon Fosse, ein Kapitel, das ganz aus der Innenperspektive des Malers Hertervig geschrieben ist. Ein Text mit musikalisch-rhythmischer Präsenz, mit minimalistischen, repetitiven Sätzen. So wird man von der titelgebenden Melancholie umfangen, gerade weil Fosse auf alle vermittelnden Beschreibungen verzichtet. Auch eine wirkliche Entwicklung findet nicht statt. Alles ist, wie es ist und schon mit dem ersten Satz klar: Lars Hertervig, ganz nackte Trostlosigkeit, hat den Verstand verloren.

Und so geht es weiter. Das zweite Kapitel schildert Hertervigs letzten Tag in der Irrenanstalt, als er sich entschließt, fort zu gehen. In Norwegen ist Lars Hertervig eine populäre romantische Künstlerfigur. Der polnisch norwegische Rock-Sänger Andrej Nebb widmete ihm einen seiner erfolgreichsten Songs. Hertervig gehört zu den Vorläufern der expressiven Malerei, etwa von Edvard Munch. Nach seiner Rückkehr aus Düsseldorf verbrachte er einige Jahre in der Irrenanstalt, wurde als unheilbar entlassen, arbeitete als Anstreicher, hatte aber dann noch einmal ein Jahrzehnt produktiven Schaffens vor sich, in der er sich von den akademischen Vorbildern löste und eine ganz eigene Ausdruckswelt schuf: Landschaftsvisionen Norwegens, der Fjorde, aber auch des Mittelmeers, wohin man ihn ein halbes Jahr zur Genesung geschickt hatte, Landschaften meist in einem geheimnisvollen Blau und von feierlichem Ernst.

Geschichte als Gegenwart

Unbekannt, nur von dem Dichter Alexander Kielland gefördert, starb er 1902 mit 70 Jahren in Stavanger. Entdeckt wurde sein Werk erst seit 1914. Stoff also eigentlich für mehr als einen Roman. In diesem Fall ist der historische Hintergrund jedoch ohne Belang, Fosse interessieren nur Stimmungen und Innenwelten. Auch auf der sprachlichen Ebene historisiert er niemals, seine Sprache ist bewusst zeitlos. Er kümmert sich nicht um die Frage, ob man so zu dieser Zeit sprach oder nicht. Ja, man vergisst dies auch während der Lektüre.

Der Roman ist in zwei Teile gegliedert, die durch ein Zwischenkapitel verbunden sind, in dem der Schriftsteller Vidme, der diesen Roman über Hertervig schreibt - offenbar Fosses alter ego -, einen Pfarrer aufsuchen will. Einen konkreten Grund weiß er nicht. Doch statt auf einen älteren Herrn trifft er auf eine junge und aufgeschlossene Pastorin, die ihm als Frau und erotisches Wesen gegenübertritt - und genau das sucht er in diesem Moment nicht, er möchte nicht als erwachsener Mann agieren müssen. Fosses Figuren befinden sich allesamt in geschlossenen Räumen, in regressiven Stadien, die sich gegenüber der Erwachsenenwelt verschließen. Das gilt auch für seine Theaterstücke. Eine Bühnenadaption des Romans wird zur Zeit in Paris erfolgreich gespielt.

Im letzten Kapitel, Hertervig ist bereits ein gutes halbes Jahr tot, lässt seine Schwester Oline die Dinge noch einmal Revue passieren. Vor dem eigenen Tod befindet auch sie sich in einem Übergangsstadium. Ihre Gedanken haben sich schon verwirrt, ein weiterer Bruder stirbt. Das Leben ist auf Weniges reduziert: Essen, bzw. das Essen besorgen, Laufen können, Verdauen. Das Nichtgesagte wiegt bei Fosse schwer. Eine fast aggressive Gewalt steckt darin, die zu Implosionen führt. Davon konnte man sich auch bei seinem Stück "Die Nacht singt ihre Lieder" überzeugen, das als Gastspiel aus Zürich unlängst an der Berliner Schaubühne zu sehen war. Jon Fosse, Jahrgang 1959, ist derzeit der Shooting-Star unter den Bühnenautoren, auch wenn dieses laute Wort ihm sicher nicht behagt. Schaubühnenchef Thomas Ostermeier jedenfalls ist so begeistert, dass er am liebsten eine ganze Saison allein mit Fosse füllen würde.

Tomas Fitzel

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