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Panorama: Mit allem Sachverstand

Viele Gutachter im Eschede-Prozess sollen Revision verhindern

Von Gabriele Schulte, Hannover

Dicht an dicht sitzen die dreizehn Herren an langen Tischen vor der Richterbank in Hannover. So viele Gutachter wie beim Verfahren um das ICE-Unglück von Eschede haben sich wohl nie zuvor in einem deutschen Gerichtssaal versammelt. So viele, meint ein Sprecher der auswärtigen Kammer des Landgerichts Lüneburg, haben sich auch noch nie in einem Strafprozess zu einem gemeinsamen Thema geäußert. Einige der Physiker und Mathematiker tragen Bügelhörer im Ohr, um sich die Meinung ihrer Kollegen simultan übersetzt anzuhören; denn sie kommen aus Südafrika, Schweden und Japan.

Experten aus aller Herren Länder

Das große Aufgebot an Sachverständigen, die am Mittwoch mit der Betrachtung von Eisenbahn-Radreifen fortfuhren, kann nach Ansicht von Prozessbeobachtern eine Revision des komplexen Verfahrens verhindern helfen. „Die Angeklagten und die Nebenkläger sollen zu ihrem Recht kommen“, sagt Michael Dölp, der vorsitzende Richter – schon deshalb sei eine gründliche Prüfung geboten. Die bisher schweigenden Angeklagten, drei Ingenieure von Bahn und Herstellerwerk, sollen am Ende wissen, ob sie entgegen den Beteuerungen ihrer Anwälte doch auf fahrlässige Weise schuldig geworden sind am Tod von 101 Menschen und an den Verletzungen von 105 weiteren.

Die Nebenkläger, meist Angehörige von Opfern, sollen fast fünf Jahre nach dem Unglück in der Südheide erfahren, wie es zu der Katastrophe kam, die ihre Familien zerstörte. Entgleiste ein eigentlich „unkaputtbarer“ gummigefederter Radreifen nach einer Kette unglücklicher Umstände, wie die Verteidiger sagen? Oder hätte der Unfall vermieden werden können, wenn die Ingenieure bessere Kontrollen und eine niedrigere Abnutzungsgrenze veranlasst hätten, wie Staatsanwaltschaft und Nebenklage meinen? Noch ist die Staatsanwaltschaft am Zuge.

Hauptsachverständige der Anklage sind Gerhard Fischer und Vatroslav Grubisic vom Darmstädter Fraunhofer-Institut. Die beiden haben sich schriftlich schon zweimal geäußert: kurz nach dem Unfall von Eschede und dann in einer scharfen Replik auf die Gutachten von Bahn und Verteidigung, die dem Gericht wenige Wochen vor der im August begonnenen Hauptverhandlung zugeleitet worden waren. Vergangenen Donnerstag kam Fischer als erster im Gerichtssaal persönlich zu Wort. „Es handelt sich um den typischen Ermüdungsbruch eines Radreifens“, sagte der Fraunhofer-Mitarbeiter.

Die angeklagten Ingenieure hätten demnach nicht zulassen dürfen, dass die Reifen bei Hochgeschwindigkeitszügen so weit heruntergefahren und nur unzureichend kontrolliert wurden. Die Verteidiger haben Fischers Vortrag bisher voller Ungeduld verfolgt. „Welche Messwerte haben Sie denn zugrunde gelegt?“, fragte etwa der Frankfurter Anwalt Walther Graf und fiel dem Gutachter gleich während der Antwort ins Wort. „Wo gibt es denn die 1695 Kilometer lange Teststrecke der Bahn, von der in Ihrem Gutachten die Rede ist?" Der Staatsanwalt kritisierte derlei „Polemik". Doch der Mann vom Fraunhofer-Institut ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. "Das ist keine Messstrecke", konterte er. „Gemessen wurde im normalen Bahnnetz.“

Die Bahn hat Gutachter mitbeauftragt

Noch ist die Stunde der Bahn nicht gekommen. Sie hat die Verteidigung beim Beauftragen der sechs Gutachter aus Südafrika, Japan und Schweden unterstützt. „Es ist komfortabel für uns, wenn die Weltelite der Sachverständigen zu einem einheitlichen Ergebnis kommt“, sagt Verteidiger Otmar Kury aus Hamburg – Ergebnissen im Sinne der Angeklagten, versteht sich. Bahn-Anwalt Hanns Feigen erläutert, warum Experten gleich von mehreren Kontinenten herangeflogen wurden: „In Südafrika kennt man sich besonders gut mit extremen Temperaturunterschieden aus, in Japan mit Hochgeschwindigkeitszügen, und die Schweden sind bei dem Thema führend in Europa.“ Nebenklage-Vertreter Reiner Geulen aus Berlin hat den Verteidigern zu Prozessbeginn vorgeworfen, mit der großen Zahl von Gutachtern bloß imponieren und das Verfahren lähmen zu wollen.

Er bezweifele auch, dass es sich tatsächlich um die weltführenden Sachverständigen handele. „Mit gummigefederten Radreifen haben sie in Japan und Südafrika keine Erfahrung.“ Auch Nebenkläger Heinrich Löwen, von der Selbsthilfe Eschede, hat sich seine Meinung gebildet: „Wenn die Bahn die Gutachten bestellt, kann man sich doch denken, was da rauskommt.“ Die 1. Strafkammer des Landgerichts will dagegen viel Mühe darauf verwenden, die Vorträge der Experten fair zu gewichten. Erst nach dieser ausführlichen Ursachenforschung wird es dann um die persönliche Verantwortlichkeit der drei Angeklagten gehen.

Gabriele Schulte[Hannover]

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