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Panorama: Moskauer Fernsehturm: Obervolta mit Atomraketen - Der TV-Turm symbolisiert das russische Debakel (Kommentar)

Es ist eine harte Prüfung für die bekannte Leidensfähigkeit der Russen: Erst versinkt ein hochmodernes Atom-U-Boot mit 118 Mann an Bord, und die Marine blamiert sich mit vergeblichen Rettungsversuchen. Wenige Tage später zerstört ein durch Kabelbrand entfachtes Großfeuer den Moskauer Fernsehturm so gründlich, dass das 540 Meter hohe Wahrzeichen wahrscheinlich abgerissen werden muss.

Es ist eine harte Prüfung für die bekannte Leidensfähigkeit der Russen: Erst versinkt ein hochmodernes Atom-U-Boot mit 118 Mann an Bord, und die Marine blamiert sich mit vergeblichen Rettungsversuchen. Wenige Tage später zerstört ein durch Kabelbrand entfachtes Großfeuer den Moskauer Fernsehturm so gründlich, dass das 540 Meter hohe Wahrzeichen wahrscheinlich abgerissen werden muss. Beides sind Unglücke von hohem Symbolwert: Man stelle sich nur einmal den geknickten Nationalstolz der Amerikaner vor, würde nach einem ähnlichen Debakel der US-Navy ausgerechnet das Empire State Building niederbrennen.

Die doppelte Demütigung in diesem "schwarzen August" trifft das russische Volk an seinem empfindlichsten Nerv: dem gekränkten Großmachtstolz. Gerade diesen wieder aufzurichten, war Wladimir Putin Anfang des Jahres angetreten. Das Image des jungen, energischen Aufräumers unterstrich er mit markigen Sprüchen und Macho-Gesten wie dem Flug in einem Überschalljet. Gleichzeitig forderte er für Russland die Weltmacht-Rolle zurück. Nur wenige Wochen hat dieses "Wir sind wieder wer" die Russen getragen. Jetzt räumte ein kleinlauter Kreml-Chef ein, der Großbrand am Fernsehturm zeige, in welchem Zustand sich Russland befinde.

Das ist ehrlich. Fraglich bleibt trotzdem, ob Putin erkennt, dass der überzogene Weltmacht-Wahn und der marode Zustand nicht nur der militärischen, sondern auch der zivilen Infrastruktur in direktem kausalen Zusammenhang stehen. Es ist schon ironisch, dass ausgerechnet die kommunistische Opposition sich jetzt drohend mit weiteren Katastrophen-Prognosen zu Wort meldet. In den Jahrzehnten der Sowjetherrschaft wurden dem Land für das militärische Wettrennen und zivile Renommier-Projekte wie den Fernsehturm oder die Moskauer Metro unglaubliche Leistungen abgepresst. Sie standen in keiner Relation zu dem niedrigen Lebensstandard. Zu Recht nannte Helmut Schmidt die Sowjetunion einmal ein "Obervolta mit Atomraketen", nur haben das damals im Westen wenige verstanden.

Die Infrastruktur ist ruiniert

Mittlerweile spekulieren russische Medien offen darüber, dass Russlands atomare Sprengköpfe schneller von selbst verrotten, als Abrüstungsverträge mit den Amerikanern überhaupt unterzeichnet werden können. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion lebt Russland - wie die übrigen GUS-Länder - überwiegend von der Substanz.

Mit seiner maroden Armee gefährdet Russland die Welt, mit seiner maroden zivilen Infrastruktur sich selbst. Deswegen empfinden die Russen den Brand im Fernsehturm als nationale Katastrophe, dem "Kursk"-Debakel durchaus ebenbürtig. Der Fernsehsehturm war das zu Stahl und Beton gewordene Chruschtschow-Motto "Den Westen ein- und überholen". Das Feuer und die eklatanten brandschutztechnischen Mängel stehen stellvertretend für die latente Gefahr, der jeder in Russland täglich ausgesetzt ist: Verrostete Straßenbahnen rumpeln über wackelige Gleise, Einwegspritzen müssen gleich für mehrere Patienten reichen - und was die vielen uralten Flugzeuge trotz Spritmangels eigentlich in der Luft hält, weiß keiner so genau.

Es steht in merkwürdigem Kontrast zu diesen Zuständen, dass das Land zumindest in puncto Kommunikation im postindustriellen Zeitalter angekommen ist. Als der Moskauer Fernsehturm 1967 nicht pünktlich zum 50. Jahrestag der Oktoberrevolution fertig wurde, gelang es der damaligen Führung noch, dies vor der Bevölkerung geheim zu halten. Heute ist so etwas undenkbar: Weil nach dem Brand die meisten Fernsehprogramme nicht empfangen werden können, setzten die Russen zum Ansturm auf das Internet an. Es fällt dem Kreml immer schwerer, die öffentliche Meinung zu manipulieren. Das zeigte sich überdeutlich während der "Kursk"-Katastrophe: Da blieb den Verantwortlichen in Politik und Marine nichts anders übrig, als Tag für Tag ihre alten Angaben zu korrigieren und das nachzuliefern, was viele bereits aus westlichen Internet-Quellen erfahren hatten.

Wahrscheinlich hat Putin die richtige Konsequenz gezogen. Nach dem Brand in Ostankino versuchte er erst gar nicht, irgendetwas schönzureden. Diesmal gestand er offen das volle Ausmaß des Problems ein. Der Weg zu einer Lösung indes wird nur über Russlands endgültigen Verzicht auf die Weltmacht-Rolle führen.

Doris Heimann

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