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© Uwe Neumann

Musik: Rolf Kühn: Aquarellist mit Klarinette

Er spielte Jazz mit Benny Goodman und wurde von Billie Holiday beschimpft. Jetzt wird Rolf Kühn 80.

Schwarz schimmert der Samt des aufgeklappten Klarinettenkoffers. Darin dunkles, zur Ruhe gekommenes Holz. Rolf Kühn setzt seine Klarinette zusammen. Sehr aufmerksam. Wie oft hat er das schon gemacht? Fließende Bewegungen, ein immer wiederkehrendes Ritual. Jeden Tag fährt der Musiker ins alte Rias-Gebäude und übt mehrere Stunden. Er beginnt mit den tiefen Tönen, von sehr laut bis fast flüsternd leise. An seiner Zungenspitze hat sich im Laufe der Jahre eine kleine Perle gebildet, das Mal des Klarinettisten. Seine Unterlippe, berichtet er, sei immer gereizt, denn die Zähne pressen von innen dagegen, um das Mundstück zu halten und den Atem zu regulieren. Ein sein Leben begleitender leiser Schmerz.

Er reicht zurück bis in Kühns Kindheit in Leipzig-Lindenau. Rolf ist ein Jahr alt, als die Familie 1930 in den ersten Stock eines Mietshauses zieht, in dem auch der kleine Tabakladen der Großeltern ist. Die Mutter ist im Stil der zwanziger Jahre gekleidet, mit Pagenkopf und schönen, leicht fallenden Kleidern. Auf den kleinen Schwarz-Weiß-Fotos mit gezacktem Rand aus dieser Zeit lacht sie oft. Der Vater, Kurt Kühn, hält sie im Arm. Er ist Artist und Varietékünstler im Leipziger Krystallpalast und Berliner Wintergarten.

Die Mutter ist Jüdin, in der Reichsprogromnacht am 9. November 1938 wird der Tabakladen zerstört. Offiziell darf Rolf Kühn jetzt nicht mehr unterrichtet werden. Er fährt heimlich zu seinen Lehrern, wie zu Hans Berninger, dem ersten Klarinettisten des Gewandhausorchesters Leipzig, der in der Nähe des Völkerschlachtdenkmals wohnt. Es ist ein weiter Weg mit der Straßenbahn. Um Geld zu verdienen, spielt Kühn auf Beerdigungen, manchmal vier am Tag. Für das Sargtragen gibt es fünfzig Pfennige extra. Das Überleben wird noch schwieriger, als der Vater Auftrittsverbot erhält, weil er die vom Regime geforderte Scheidung verweigert und in einem Arbeitslager landet. Ende 1944 erhält die Mutter die Aufforderung, sich für den Abtransport nach Theresienstadt zu melden. Dem Vater gelingt es, die Frist aufzuschieben, aber die Familie lebt in schrecklicher Furcht. Im April 1945 wird Leipzig von den Alliierten eingenommen – befreit.

Rolf Kühn hört zum ersten Mal Jazz. „Hallelujah“ rotiert auf einer amerikanischen Armee-Schellackplatte, eine Aufnahme des Benny-Goodman-Quartetts. Es ist wie eine zweite Befreiung. Er ist siebzehn, als der begabte Klarinettist seine ersten Auftritte im Radio hat. Schnellläufige, atemlose Bebop-Linien, ein Sich-Betäuben durch immer stärkeres, drängendes Tempo. Es ist die Zeit des „Hot Jazz“, der sich wie ein Fieber im Kalten Krieg ausbreitet. Als 1949 die DDR den Musikern offiziell das hohe C verbietet – mit der Begründung, Jazz sei imperialistische Musik –, geht Kühn nach West-Berlin.

Im Mai 1956 zieht er in die Vereinigten Staaten, wo die Saxofonisten dem Jazz neue, expressive Wege erschließen. Zufällig begegnet der Neuankömmling auf der Fifth Avenue einem alten Bekannten, Friedrich Gulda, den er von Jamsessions im Berliner Jazzclub Badewanne kennt und der gerade in der Carnegie Hall spielt. Über ihn lernt er den Produzenten John Hammond kennen und nimmt die von Kritikern gefeierte Platte „Streamline“ auf. Kühn tritt in Goodmans Band ein und spielt sich aus dessen mächtigem Schatten. In der sublimen Zähmung des Widerständigen entstehen die für Kühn typischen fließenden, tänzelnden Linien mit der Durchlässigkeit eines Aquarells. Er geht mit den „Birdland Stars of 57“ auf Tour, in einem Greyhoundbus mit Billy Eckstine, Lester Young und der Count Basie Band durch die USA. Als Eckstine und die gefeierte Sarah Vaughan in Hotels aufgrund ihrer Hautfarbe abgewiesen werden, ist Kühn erschüttert. In New York war die Segregation nicht so spürbar, er wohnt hier in einem von Puertoricanern dominierten Viertel am Central Park.

Es ist sein zweiter Winter in New York. Vor dem Haus Nummer sechsundzwanzig in der Siebenundachtzigsten Straße West türmen sich schmutzige, zusammengefegte Schneehaufen, auf die sich dünner Neuschnee gelegt hat. Es ist fünf Uhr morgens am 1. Januar 1958, als Kühn von einem Silvester-Konzert heimkehrt und seinen Schlüssel nicht findet. Die einzige Person im Haus, die er kennt, wohnt im Parterre. Die Fenster sind dunkel, er klingelt trotzdem. Eine vor Wut blasse Billie Holiday öffnet. Was ihm einfalle. Sie wird ausfallend, peitscht ihm Schimpfwörter um die Ohren. Dabei hatte er vorher nie gewagt, sie anzusprechen, die einst so Schöne mit dieser wundervollen Stimme, die sich jetzt, ein halbes Jahr vor ihrem Tod, nur mühsam aufrecht hält. Wochen später entschuldigt sie sich bei einem gemeinsamen Fernseh-Auftritt.

Weil es immer schwieriger wird, in New York als Musiker zu überleben, kehrt Kühn 1961 nach Deutschland zurück. Im Mai landet er in Berlin und vereinbart ein Konzert für die Leipziger Herbstmesse, was für ihn auch die Gelegenheit ist, seinen 14 Jahre jüngeren Bruder Joachim wiederzusehen. Als im August die Mauer gebaut wird, sollen die Musiker aus dem Westen ihre Teilnahme aus Protest absagen. Kühn spielt trotzdem. Einen Tag später wird er in das Büro des Sendeleiters von Rias und SFB zitiert, der ihm sagt, Berlin sei eine politische Stadt und sein Benehmen nicht akzeptabel. Die Folge: Auftrittsverbot. Kühn geht nach Hamburg, wo er sich freieren musikalischen Formen zuwendet.

Mit einer Einladung nach Wien bekommt er seinen Bruder 1966 aus der DDR frei – und der Pianist Joachim wird zu einem seiner wichtigsten Partner. Sie spielen mit ihrem Quartett bei den Berliner Jazztagen und werden enthusiastisch gefeiert. Der Kritiker Nat Henthoff interpretiert damals das zerrissene, zitternde und tief in Abgründe stürzende Klarinettensolo Kühns auf dem Album „Impressions of New York“ als Ausdruck einer sich selbst verschlingenden Zeit, in der Fernsehbilder das Grauen napalmverbrannter Kinder aus Vietnam übertragen. Bald schon wendet sich Kühn der Orchesterarbeit zu, beginnt zu dirigieren. Es bleibt vielen Kollegen ein Rätsel, warum er sich auf dem Höhepunkt seiner künstlerischen Anerkennung vom Jazz zurückzieht, obwohl er weiterhin täglich mehrere Stunden übt und für das Label MPS eine Reihe von Konzept-Alben aufnimmt. Kühn hatte sich über den Jazz eine neue Form der Moderne erschlossen. Eine Gegenwirklichkeit, die auf die physische und psychische Gewalt der Zeit mit einer neuen Zartheit reagierte.

1996 reist Kühn nach New York, wo er mit Ornette Coleman die Duo-Aufnahme „The Vertical Circle“ einspielt. 2008 gründet er mit jungen Musikern aus der freien Improvisationsszene Berlins eine Band – nach vierzig Jahren wieder eine sich gemeinsam entwickelnde Formation. Mit geschlossenen Augen tastet sich ihre Musik durch schmale Korridore, reibt sich an aufgebrochenem Mauerwerk und zerborstenem Glas. Immer tiefer hinein in weite Klangflächen, wo Komposition und freies Spiel ineinandergreifen. Verzweigt und widersprüchlich, ein undurchsichtiger Klang. Am Dienstag wird der Ausnahmemusiker achtzig Jahre alt.

Maxi Sickert hat ein Buch über Rolf Kühn geschrieben, „Clarinet Bird“, Creative People Books 2009, 29,90 €.

Lesung mit Konzert: 3. Oktober, 19.30 Uhr in den Ateliers Fidicinstraße 40, Kreuzberg.

Maxi Sickert

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