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Roesler

© dpa

Neue Grippe: Schwein gehabt

Politiker und Behörden haben die Neue Grippe falsch eingeschätzt und geben es bis heute nicht zu – trotzdem ist Nachsicht angesagt.

Verdanken wir die ganze Aufregung um die Schweinegrippe einer gigantischen Fehleinschätzung seitens der zuständigen Politiker und Behörden? „Ich denke, das ist die mildeste Pandemie, die wir je hatten“, sagt einer, der den Überblick haben sollte: der Gesundheitsforscher Marc Lipsitch von der renommierten Harvard School of Public Health in Boston. Auch in Deutschland spricht derzeit alles für diese Einschätzung. 94 Todesfälle stehen bisher in unmittelbarem Zusammenhang mit der Schweinegrippe, die von Wissenschaftlern auch „Neue Grippe“ genannt wird. Bei der saisonalen Grippe sind es Jahr für Jahr Zehntausende.

Weit weniger milde als die Schweinegrippe verlaufen die Debatten über Sinn und Unsinn der Maßnahmen, die bisher ergriffen wurden. Vor allem an den modernen Stammtischen des World Wide Web wird gewettert, was das Zeug hält: „Das Virus hat wahrscheinlich gar keinen Bock mehr, da es dank der Medien unter extremem Leistungsdruck steht“, ätzt ein Nutzer. Es waren allerdings weniger die gescholtenen Medien, die den Druck herstellten, sondern die UN-Weltgesundheitsorganisation (WHO), die im Juni die Pandemie-Stufe 6 erklärte. Das zwang die Staaten zum Handeln, in Deutschland trat der Nationale Pandemieplan in Kraft. Auch die Bürger waren beunruhigt: Im Hamburger Bernhard-Nocht-Institut gab es enormen Ansturm, als freiwillige Testpersonen für einen neuen Impfstoff gegen den noch weitgehend unbekannten, vielen sehr unheimlichen Erreger gesucht wurden. Gesundheitsforscher Lipsitch warnte im August gegenüber der „Washington Post“: „Man kann sagen, dass es mehrere zehn Millionen Krankheitsfälle geben wird, Hunderttausende Klinikeinweisungen und Zehntausende Tote.“

Heute zeigt sich ein anderes Bild. Hochrechnungen ergeben, dass 20 bis 40 Prozent der Bevölkerung inzwischen gegen das Virus geschützt sein dürften, weil sie die Schweinegrippe ganz sang- und klanglos mit einer leichten oder gar keiner Erkältung durchgemacht haben. Das wären deutlich mehr Menschen, als in Deutschland derzeit durch eine Impfung geschützt sind. Fünf Prozent der Bevölkerung seien es inzwischen, so war letzte Woche nach dem „Impfgipfel“ von Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler zu hören. Der Mediziner ist selbst mit gutem Beispiel vorangegangen, und er betont immer wieder, dass die Impfung „jedem zu empfehlen“ sei. Dass Rösler die Impfung entgegen dem Rat der Experten jetzt jedem empfiehlt, hat vielleicht damit zu tun, dass Deutschland wegen der Abwehrhaltung der Bevölkerung auf vielen Millionen bestellten Impfdosen sitzen zu bleiben droht. Die Ständige Impfkommission (Stiko) am RKI empfiehlt die Impfung sehr differenziert für bestimmte Gruppen. Am wichtigsten ist die Immunisierung demnach für medizinisches Personal, chronisch Kranke und Schwangere. Für werdende Mütter wird ab dieser Woche nun endlich ein Impfstoff ohne Wirkungsverstärker zur Verfügung stehen, die Bundesländer haben 150 000 Einheiten geordert. Die Stiko empfiehlt nun den Immunschutz auch für Kontaktpersonen von Schwangeren, chronisch Kranken und Kindern unter sechs Monaten, bei denen eine Grippe schwerer verlaufen könnte, die aber selbst noch nicht geimpft werden können. Unter den Gesunden sollte die Jugend den Vortritt haben: zuallererst Menschen zwischen einem halben und 24 Jahren, erst dann Erwachsene im mittleren Alter und zuletzt gesunde Senioren. Noch nicht einmal Röslers Mediziner-Kollegen folgen seiner Aufforderung. Nur jeder siebte Arzt hat sich bisher impfen lassen. Zu lernen gab es auch aus logistischen und psychologischen Fehlern: Zuerst machte die Rede vom „Zwei-Klassen-Impfstoff“ die Runde, weil Politiker sich mit dem Impfstoff ohne Wirkungsverstärker impfen ließen, dann fehlte ein unbedenkliches Präparat für Schwangere, und nun zeigt sich, dass 50 Millionen georderte Pandemrix-Dosen zu viel sind, weil eine einmalige Impfung ausreicht und Kinder sogar nur eine halbe Portion brauchen. Es sei ein Fehler gewesen, automatisch davon auszugehen, dass jeder zwei Spritzen brauche, sagte Wolfgang Becker-Brüser, Herausgeber des kritischen „Arzneimitteltelegramms“, der „Neuen Presse“. Die Politik habe sich dazu preislich von der Firma GlaxoSmithKline über den Tisch ziehen lassen. „Da darf es wirklich nicht wundern, dass die Verbraucher inzwischen vor allem gegenüber dem Dilettantismus der Verantwortlichen Antikörper entwickelt haben“, kommentiert die „Osnabrücker Zeitung“ bissig.

So steht der Vorwurf im Raum, dass Politik und Behörden ihre offenkundigen Fehleinschätzungen und Managementfehler bis heute nicht eingestehen. Warum eigentlich nicht? Wenn sich die Fakten ändern, darf man auch seine Meinung und Haltung ändern. Zumal es erfreulich ist, dass bisher alles glimpflich verläuft. Und eines sollte man den Verantwortlichen zugestehen: Dass sie zu einem Zeitpunkt Entscheidungen treffen mussten, zu dem Verlauf und Schwere der Pandemie noch nicht abzusehen waren. Entwarnung kann auch jetzt keiner geben. Der weitere Verlauf sei unvorhersehbar, mahnt Lipsitch. Impfgipfel, so könnte man lernen, stehen vor ähnlichen Problemen wie der Klimagipfel in Kopenhagen: Über die Zukunft kann man auf der Basis vorhandener Daten nur Mutmaßungen anstellen. Gehandelt werden aber muss heute.

Adelheid Müller-Lissner

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