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Überlebende Frauen warten auf Hilfspakete.

© AFP

Pakistan: Entfesselte Natur – entwurzelte Menschen

Islamistische Organisationen helfen in Pakistan neben US-Soldaten. Für einen Moment ist im Kleinen der große Krieg vergessen.

Wakeel Shah stand schultertief im Wasser, als er seinen letzten Sohn Rahman in Sicherheit brachte. Rahman ist mit zwölf Jahren sein Ältester. Zuvor hatte der Vater die Frau und die sechs jüngeren Kinder auf seiner Schulter zur erhöhten Autobahn M1 getragen. Die Familie lebt in Akbarpura, einem Dorf am Kabulfluss in der Nähe von Peshawar. Die Flut hat dem 46-jährigen Bauern die materielle Existenz geraubt. Sein Getreide und die Maisernte sind weg. Die Familie hat ihre drei Rinder, drei Ziegen und ihre Hühner verloren. Shah ist verzweifelt. „Ich bin ruiniert. Wer wird uns nun helfen?”

Wer aus dem Dorf Akbarpura flüchten konnte, hat sich auf die Autobahn M1 gerettet, die die Hauptstadt Islamabad mit Peshawar verbindet. Sie alle kampieren auf dem Mittelstreifen. Kilometerweit ziehen sich die Zelte hin, Kinder hüpfen herum, neben ihnen rasen schwere Lastwagen vorbei.

Die Felder mit ihrem Mais, Zuckerrohr und Tabak auf beiden Seiten der Autobahn stehen noch immer meterhoch unter Wasser. Die Bauern und ihre Familien stehen hilflos vor den zerstörten Früchten ihrer Arbeit.

30 Kilometer weiter stand das Dorf Peer Sabbaq am Rande des Flusses. Die Lehmbauten sind fortgerissen oder haben sich aufgelöst. „Ich habe meine Familie mit den acht Kindern retten können“, sagt Bakhtawar Shah, auch er ein Bauer. Er hat drei Ziegen, eine Kuh und etwa 30 Kilo Weizen verloren, die Grundlage seiner Existenz.

Die Bauernfamilien auf der Autobahn sind entwurzelt, völlig auf sich zurückgeworfen, sie werden, wenn sie die Katastrophe überlebt haben, bei null anfangen. Pakistan hat nie zuvor so etwas erlebt, sagt James Boakes, ein Mitarbeiter der britischen Hilfsorganisation Action Aid. Anne W. Patterson, die amerikanische Botschafterin in Islamabad, versuchte ihren Landsleuten die Lage mit einem Vergleich zu erklären. „Stellen Sie sich die Konsequenzen vor, wenn der Mississippi, der durch zehn Bundesstaaten fließt, über die Ufer treten würde.“ Der Indus ist fast 3000 Kilometer lang, vom Himalaya bis zum Arabischen Meer erstreckt er sich. Auf dieser Strecke hat er sein Unheil angerichtet, eine Katastrophe biblischen Ausmaßes. 14 Millionen Menschen sind von den Fluten betroffen.

Oben im Norden, etwa 250 Kilometer von Peshawar entfernt, der Hauptstadt der Provinz Khyber Pukhtoonkhwa, hat die Flut 92 Brücken fortgerissen. Viele Straßen sind zerstört, die Opfer von der Außenwelt abgeschnitten. Sie können allenfalls von Hubschraubern aus versorgt werden, notdürftig, damit sie die nächsten Tage überleben, mit Trinkwasser und Tabletten, mit denen sie das Wasser desinfizieren können. „Wir sind sechs Stunden über Schneelawinen und Erdrutschmassen gewandert, bis wir eine Straße erreichten, die noch nicht zerstört war“, erzählt Rasheed Torwal, ein Bauer aus Kalam. Das ist ein malerisches Tal knapp 100 Kilometer von Mingora im berühmt-berüchtigten Swattal. Auf der Straße warteten sie, bis sie in einen bereits völlig überfüllten Bus nach Mingora steigen konnten.

Die Bevölkerung, die in kleinen Dörfern zerstreut an den Bergen entlang dem Swatfluss wohnen, sind seit über einer Woche auf die Nahrungsmittellieferung durch Hubschrauber angewiesen. Es herrscht eine unheimliche Stille, Totenstille. Sie liegt auf den Gesichtern, die der Natur ausgesetzten Menschen haben aufgehört zu reden.

Eine Woche vor der Katastrophe war hier zum ersten Mal seit drei Jahren ein Konzert aufgeführt worden. Vorher hatten die Taliban hier geherrscht und alle Vergnügungen verboten. Sie sind in einer militärischen Großaktion vertrieben worden. Das Musikfest sollte die Gegend als Touristenattraktion wiederbeleben.

„Kaum hatten wir Freude und Erlösung gefeiert, da kam die Flut“, sagt Nazeer Shah, ein Schullehrer aus dem Dorf Bahrain. Seine Augen werden feucht. Er ist zu seinem Freund Yunus Ahmed nach Mingora geflüchtet, eine Stadt, die Tausende Flüchtlinge anzieht. „Ein Unglück nach dem anderen, was will Gott von uns?“, fragt Yunus Ahmed. Erzürnt sind die Menschen über das Verhalten von Präsident Asif Ali Zardari, der seine Europareise fortsetzte, während sein Land gerade die größte Naturkatastrophe seiner Geschichte erlebte. Der Oppositionspolitiker und frühere CricketStar Imran Khan fragte: „Wieso wohnt unser Präsident im teuersten Hotel Londons, während tausende Menschen im Stich gelassen werden?“ Während Pakistans Präsident in England und Frankreich weilte, zögerte die US-Armee nicht, Hubschrauber loszuschicken, um Überlebenden Nahrungsmittel zu bringen. Amerikanische Soldaten haben bisher ein Dutzend Behelfsbrücken gebaut, tausende Zelte geliefert und sechs Wasseraufbereitungsanlagen aufgestellt.

Dabei halfen die Amerikaner an einigen Stellen unfreiwillig neben den islamistischen Hilfsorganisationen wie der Al- Khidmat Foundation, einer Stiftung der Dschamaate Islami, und Falahe Insaniat, einem Hilfswerk, das der verbotenen Terrororganisation Lashkare Taiba (auch Jamaatud Dawa genannt) angegliedert ist.

So lässt die Katastrophe für einen Moment im Kleinen den großen Krieg ruhen. Auch bei der Hilfsaktion nach dem verheerenden Erdbeben 2005 hatten diese islamistischen Organisationen und die amerikanischen Soldaten in bestimmten Landesteilen nebeneinander geholfen.

In Peshawar sammelt Jamaateud Dawa öffentlich Spenden für die Flutopfer. „Wir dienen nur den Bedürftigen, wer will uns daran hindern?“, fragt der Helfer Yunus Hamza, als er auf das Verbot seiner Organisation angesprochen wird. „Allah erwartet das von uns, und wir werden seinem Willen gerecht werden“, sagte Hamza.

Fast scheint es, als hätten sich derzeit mehrere Plagen gegen das pakistanische Volk gesammelt, die gewaltige Natur, die überall agierenden Taliban und eine ignorante Regierung.

Imtiaz Gul

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