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Benedikt XVI.

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Papst Benedikt: Die 5 Wege zu IHM

Papst Benedikt XVI. wohnt gut abgeschirmt. Den Vatikan umgibt eine drei Kilometer lange, wuchtige Mauer. Sie und die Schweizergarde schützen die Geheimnisse des Kirchenstaats. Und doch gibt es Lücken. Hier werden sie verraten.

Der Vatikan und seine Einwohner sind umgeben von einer 3420 Meter langen Festungsmauer. Die Mauer fühlt sich abgegriffen an und dort, wo die Kanten aus Travertin auf die Straße ragen, ganz glatt. Die Ziegel sind sienabraun, ein heller, sonniger Ton. Uralte Haken sind eingelassen. In den Fugen hat sich Moos angesetzt und grüne Algenschlieren, als Zeichen, wie die Feuchtigkeit da drinnen wütet. Die Mauer ist so hoch und fest gemauert, als ginge es darum, einen antisäkularen Schutzwall gegen die Zumutungen der Gegenwart zu errichten. Und obwohl nirgendwo Wachen zu sehen sind und die Video-Alarmanlage die Reaktionszeit einer Zeitlupenübertragung hat, findet sich auf der Mauer kein einziges Graffiti, kein Plakat und kein pathetisches „Ti amo x sempre Susanna“.

Nur in den rebellischen Jahren 1968ff. hat es bisweilen Parolen auf der Mauer gegeben, unterm Moos sind fortgekratzte Spuren noch zu ahnen. Doch heutzutage wird diese Mauer von den Römern mehr respektiert als Kasernenmauern oder der Palast des Premierministers. Keiner würde auf den Gedanken kommen, Protestplakate an den Vatikan zu kleistern. (…)

Eigentlich sonderbar für eine säkulare, von „der Diktatur des Relativismus“ (Benedikt XVI.) enthemmte Welt. (…)

„Das Wichtigste am Vatikan ist seine Mauer“, sagte einmal Eberhard von Gemmingen, Jesuitenpater und Chef der deutschen Abteilung des Radio Vatikan. Und fügte hinzu: „Denn ohne diese Mauer gäbe es kein Geheimnis um den Vatikan. Jeder würde sehen, wie langweilig es da zugeht.“ Doch weil Pater von Gemmingen innerhalb dieser Mauern durchaus den Ruf des Ketzers hat, stachelt das die Neugier nur noch an. Zumal die Mauer nicht nur Innen von Außen trennt, sondern auch Erlaubtes von Unerlaubtem scheidet und derart eine feine Osmose zwischen beiden Welten ermöglicht.

Extra muros, so eine Binsenweisheit unter Kurialen, ist sehr viel möglich, Liebschaften, moralische Überschreitungen, diskrete Doppelleben. Doch wehe, etwas davon dringt ins Innere und könnte so das Funktionieren der Jahrtausendmaschine Kurie gefährden. Dann wird gestraft, mit alter Väter Zorn: Intra muros ist heiliger Boden.

Die „von Gott gelegte Grundmauer der Kirche“ (so das baustatische Gutachten des Ersten Vatikanischen Konzils) ist aus flachen gebrannten Ziegeln in altrömischer Testaceum-Mauerart errichtet. Sie ragt in steilem Winkel himmelwärts, fühlt sich an ihren Travertin-Kanten glatt und speckig an und angenehm kühl. Sie ist an einer Stelle knapp 20 Meter hoch, das sind sechs Stockwerke, und durchgängig nach den neuesten Erkenntnissen der Renaissance-Festungsbaukunst entworfen.

Mit Bastionen, einem Zierwulst, Contrescarpen, zugemauerten Schießscharten und dazwischen die jeweiligen Wappen von Pius III.ff., Nikolaus V., Alexander VI., Gregor XVI. etc. pp. Festungsarchitektonisch gesehen ist der Vatikan eine Defensivkaserne. Man kann in einer halben Stunde um sie herumlaufen und wird in abgelegene Quartiere Roms geführt, auf der Rückseite an der Porta Pertusa (das ist die mit dem Ritterturm dahinter), wo schon die Leuchtfeuer des päpstlichen Heliports (1) zu sehen sind. Dörflich verschlafen ist es hier und nicht selten im Immobilienbesitz der Una Sancta. (...)

Zu seinem 80. Geburtstag im Jahr 2009 wird der Vatikanstaat einen neuen Stadtplan herausgeben, nach klassischen Vorgaben auf Pergament ausgeführt und in einer Auflage von 330 Drucken. Ein Exemplar wird der Uno überreicht werden. Um etwaigen Grenzkonflikten vorzubeugen.

Ungewöhnlich ist auch der Grenzverlauf im Audienzsaal (2) „Paul VI.“ im Südzipfel des Landes. Die Bühne liegt im Hoheitsgebiet des Papstes, das Publikum hingegen applaudiert schon aus dem Ausland, von Italien herüber.

Rätselhaftes Vatikanistan.

Es gibt 16 Türen in dem Mauerbauwerk. Zwei führen zu den Vatikanischen Museen, mit Statuen darüber, die Michelangelo und Raffael darstellen sollen, zwei sind zugemauert, eine mit einer Eisentür versperrt und eine nur per Zug zu befahren. Ein Türchen führt in eine Suppenküche, ein anderes direkt zur Glaubenskongregation, und das neueste, am Risorgimento-Platz, wurde von Prof. theol. Benedikt XVI. eingeweiht und sieht aus wie vier aufgeräumte bronzene Buchrücken. Es ist das erste Bauwerk im Ratzinger-Pontifikat, und deswegen steht auch „BENEDICTUS XVI PONT. MAX ANNO DOMINI MMV PONT. I“ darauf: „Benedikt XVI., Pontifex Maximus, im Jahre des Herrn 2005, im ersten Jahr des Pontifikats“. Hinter der Pforte geht es in einer Rechtskurve tief hinunter in den Orkus, zur Tiefgarage (3) des Vatikanstaats. Und wenn einer sagt, unter dem deutschen Papst habe es keine Öffnung im Katholizismus gegeben, hier ist sie: 3,70 Meter in der Breite und 5 Meter in der Höhe.

Die erste und entscheidende Frage ist natürlich: Wie komme ich hier rein? Noch bis vor einiger Zeit wurde an den Pforten in der Regel vom Bischofsrang aufwärts kein Visum und keine Dauerkarte (Tessera) mehr verlangt. Auch in sich gekehrte junge Männer mit schwarzem Hemd und weißem Kragen wurden nicht unbedingt zurückgepfiffen, wenn sie sich hierher verloren. Da nun von den Schweizergarden nicht verlangt werden kann, alle zurzeit tätigen 4784 Bischöfe von Angesicht zu kennen, würde es folglich ausreichen, sich bei einem einschlägigen Klerus-Bedarfs-Geschäft wie „Gammarelli“ oder „Vincenzo Serpone“ als Bischof einkleiden zu lassen, was, ohne Mitra und Ring und in unterer Preisklasse, 550 Euro kostet. Schon könnte man, ein gewisses Alter und Geschlecht vorausgesetzt, den Vatikan ungehindert betreten. Aber das ist natürlich illegal und Sünde sowieso und wird mit Fegefeuer nicht unter zwei Äonen bestraft.

Nach der Regensburger Vorlesung von Benedikt XVI. wurden die Sicherheitskontrollen ein wenig verschärft. Vielleicht auch, weil im Sommer 2007 ein Wirrkopf aus Süddeutschland versucht hatte, aufs Papamobil zu springen. Auf jeden Fall wurden die Mienen der Posten strenger und Besucher müssen sich seither eine Besucherkarte anheften. Doch wie alles in Rom, ist auch die Jahrtausendmauer rund um den Staat Vatikanstadt nicht unüberwindlich. Es gibt vier, fünf Schlupflöcher, durch die auch der an sich Unbefugte die Civitas Dei betreten kann.

Lücke 1: Das Segensbüro

Wer durch Vatikanistan streifen möchte, muss zur St.-Anna-Pforte (4) gehen, dem Wirtschafts- und Gesindeeingang des Kirchenstaats. Hier ist das Codewort zu sagen: „Ufficio Benedizioni“. Oder auch auf Deutsch: „Zum Segensbüro (5), bitte.“ Das genügt, um die Garden salutieren zu lassen und den Eingang freizugeben. Denn jeder Mensch ist befugt, sich einen päpstlichen Segen zu kaufen, wenn er will. Auf dem Weg zum Segensbüro ist man jetzt schon mal auf heiligem Boden, spürt die Kamerablicke der Touristen im Rücken und schlendert gleich rechts um die Ecke 200 Meter die Via del Pellegrino (6) entlang, mit aller nötigen Muße, sich umzuschauen.

Die Kirche gleich rechts hinter dem Tor ist St. Anna, die Hauptkirche des Vatikans, weil hier in tagtäglicher Arbeit ums Seelenheil der etwa tausendköpfigen Pfarrgemeinde gerungen wird. Der geldspeicherartige, mit Moos bewachsene Rundturm links vorne ist der Geldspeicher (7) des Vatikan, der Sitz der Vatikanbank I. O. R., und von so dicken Mauern umgeben, dass die Angestellten zum Telefonieren per Handy vor die Tür gehen müssen. Nikolaus V. (1447-1455) ließ das Ding bauen, und keiner seiner Nachfolger hatte den Mut, den Bunker einfach abzureißen. Ganz oben sind die Fenster eines äußerst ansprechenden Gästeappartements zu sehen, mit einem, so wird erzählt, sagenhaften Blick über Rom.

Das Leben hier hinter der Mauer erscheint etwas verlangsamt. Ein Brunnen plätschert. Wie in einem umbrischen Dörfchen läuft es sich ruhig über das grob geflickte Kopfsteinpflaster, die Schritte verlangsamen sich, vielleicht stellt auch gerade eine Dame in den besten Jahren ihr Fahrrad in einen Hof (es ist dann die ehemalige Haushälterin und Vertraute des Papstes, Frau Ingrid Stampa, die hier wohnt). Man hört das Rattern der Druckmaschinen der Tipografia Vaticana, man hört Maurerrufe und den Klang der eigenen Schritte. Ein Gabelstapler wuchtet Paletten voll Alkoholika ins Lager des Supermarkts (8), und man fragt sich, wo man eigentlich ist.

Im ersten Hinterhof zur Rechten nun findet sich eine Zweigstelle des Päpstlichen Almosenamts (Elemosineria Apostolica). Es ist ein kleiner Raum mit Tresen und am Vormittag so drängelnd voll wie die New Yorker Börse zu Handelsbeginn. „Einmal V 6 zur Hochzeit und zwei Geburtstagssegen V 1, alles auf Spanisch!“, ist zu hören, und ein junger, dunkelbärtiger Pilger schiebt den polnischen Nonnen eine Kauforder über den Tresen. Gesegnet ist man nie genug, und hier gibt es die Papstsegen im Angebot. Es sind bunt gedruckte Urkunden, auf die ein Foto des 16. Benedikt geklebt ist und – in Kalligrafie und neuer Rechtschreibung – der Satz: „Seine Heiligkeit Benedikt XVI. erteilt von Herzen Herrn und Frau Mustermann den erbetenen apostolischen Segen anlässlich ihrer Vermählung, auf dass ihre Liebe, am Altar besiegelt, durch die Gnade Gottes jeden Tag aufs Neue Frucht bringe und erbittet die Fülle der göttlichen Gnaden.“

Den Herzenssegen des Papstes gibt es in DIN A4 schon ab acht Euro, in höherwertiger Ausstattung (Modell V 5, 35 x 50 cm, Bütten) für nur 23 Euro, selbstverständlich in allen Verkehrssprachen und zu allen Gelegenheiten: Taufe, Hochzeitstag, Geburt und Tod. Nur Auferstehung noch nicht, oder wenn, dann nur als Bückware, unterm Ladentisch.

Wer sich seinen Segen digital bestellen will, schicke eine E-Mail an:

papalblessings@elemos.va.

Die Via del Pellegrino weiter hinab kommen noch die Redaktionsräume des Römischen Beobachters (Osservatore Romano) (9), dahinter direkt an der Mauer, die „Restaurierungswerkstatt für Wandteppiche“ und am Ende der Pilgerstraße die allgemeinen Werkstätten.

Lücke 2: Das Büro des päpstlichen Leibfotografen

Wer auch am Nachmittag, wenn das Almosenamt geschlossen ist, intra muros flanieren möchte, der muss den Schweizern ein anderes Passage-Wort zurufen, nämlich: „Servizio fotografico!“ Das meint den Bilderdienst des Osservatore Romano, ebenfalls gleich rechts hinter der St.-Anna-Pforte, am Ende der Via del Pellegrino. Da ragt ein Ladenschild nüchtern übers Pflaster. „Foto“ steht da geschrieben, weiß auf rot. Es ist das Reich eines Mannes, der sein Leben lang nichts anderes gemacht hat, als Päpste zu fotografieren, bei jedem Wetter und überall: Arturo Mari, legendärer Leibfotograf des Heiligen Vaters.

Er kannte jedes Grübchen, jede Falte von Johannes Paul II., er wusste genau, bei welchem Licht er welchen Winkel wählen musste, um den Glanz des Erhabenen auf die Züge seines Santo Padre fallen zu lassen. Tag für Tag, über 50 Jahre lang. Zwar unter wechselnden Päpsten, aber doch: immer denselben, immer das Gleiche. Mari war immer zu sehen, wenn die Fernsehkameras den Papst im Blick hatten. Ein kleiner unauffälliger Mann mit einer Kamera in der Hand, der genauso selbstverständlich jede Sperre passierte wie der Pontifex. Er war überall, immer im gleichen dunklen Anzug, immer mit dem gleichen unbewegten Gesicht, dem gleichen Scheitel. Immer rückwärts hüpfend, sich nur leicht umdrehend, praktisch unsichtbar und omnipräsent, wie ein weltlicher Engel mit der Kamera. Ein Leibfotograf dürfe keine Präsenz haben, sagte Mari einmal. Er müsse nicht nur völlig verschwinden, er müsse auch eine Leere in sich erzeugen, um Ihn, den Pontifex, aufzunehmen. Nur so könne er, sagte Mari, den richtigen Augenblick mit der Kamera einfangen.

Arturo Mari hat mit seinen Bildern das Bild vom Papst revolutioniert. Er war es, der die Bilder machte vom Papst auf Skiern, vom Beter für den Frieden, vom Weltenpilger und schließlich vom Gemarterten. Solche Bilder hat es bis dahin in der Papstgeschichte nicht gegeben.

Sein erster Papst war Pius XII., da war er noch Fotolehrling, gerade einmal 15 Jahre alt. Das war die harte Schule. Seligsprechungen dauerten damals noch sechseinhalb Stunden. Der damalige Chefarchäologe des Vatikans, der deutsche Jesuitenpater Engelbert Kirschbaum, war ein Bekannter von Maris Vater und selbst Hobbyfotograf. Er schenkte dem kleinen Arturo seine erste Kamera, eine Leica. Am 9. März 1956 begann Mari im fotografischen Dienst des Osservatore Romano und hörte die nächsten 50 Jahre nicht mehr auf zu fotografieren. Im Vatikan wird erzählt, er habe in all den Jahren keinen Tag Urlaub genommen und sich nie krankgemeldet.

In zehn Jahren hat Mari allein sechs Millionen Bilder von Johannes Paul II. gemacht. Manchen historischen Augenblick kennt die Welt nur durch seine Linse. Die einzige Papstmesse, an der Mari je ohne Fotoapparat teilgenommen hat, war die Priesterweihe seines eigenen Sohnes. Als Arturo Mari einmal gefragt wurde, ob er es nicht leid sei, immer nur ein Sujet zu fotografieren, antwortete er, es sei ein Privileg „als Schatten zu dienen, um den Vertreter Jesu Christi auf Erden zu verewigen“. Seine Vorfahren waren schon Sanpietrini, Angestellte der „hochwürdigen Fabrik des heiligen Petrus“, und mussten zu den hohen Feier- tagen auf die Kuppel steigen, um dort die Fackeln zu entzünden.

Der Bilderdienst des Arturo Mari hat selbstverständlich auch das Monopol auf Audienzbilder. Dann wird der Hoffotograf zum wandelnden Passbildautomaten. Nie ein Objektivwechsel, immer dieselbe Blende. Als er noch nicht auf digitale Fotografie umgestiegen war, jagte Mari die Filmrollen nur so durch seine beiden Nikon-F4-Apparate, mittwochs, wenn sich zum Finale der Generalaudienz eine Karawane von Auserwählten auf die Bühne schob. Denn ein Moment, ein flüchtiges Wort mit dem Kirchenoberhaupt wird nur real, wenn es später goldgerahmt im Wohnzimmer aufgehängt zu zeigen ist. Die Kontaktabzüge, zu tellergroßen Rollen gedreht, können im Servizio Fotografico angeschaut werden. Jeder, der einmal Johannes Paul II. oder Benedikt XVI. die Hand gereicht oder geküsst hat, ist hier zu finden. Brautpaare, Kriegsopfer, Fußballer, Krebskinder, Stewardessen und Monarchen, Greise im Rollstuhl und frisch getaufte Säuglinge.

Es genügt, den Angestellten ein Datum zu nennen, und schon verschwinden sie, um kurz danach mit dicken Rollen bepackt wieder zu erscheinen. Die Wände des Raums sind mit den fotografischen Ikonen der letzten Jahre behängt. Das legendäre Bild des alten Johannes Paul II., wie er sich am Bischofsstab festklammert. Derselbe, in sich gekehrt in den Gärten von Castel Gandolfo. Oder, nach dem Attentat, auf dem Papamobil. Das sind heilige Bilder. Bei Mari kann man sie in jedem Format bestellen.

Maris Bilder sind teilweise ins Internet gestellt (https://www.photo.va/indedex.php). Es gibt da eine englische Version, Suchmaschinen und Best-of-Galerien. Zurzeit sind es etwa eine halbe Million verfügbare Bilder, alle sind übers Netz zu erwerben. Es ist reizvoll sich vorzustellen, man würde alle diese Fotos schnell hintereinander anklicken. Dann ergäbe sich ein nahezu lückenloser Film des päpstlichen Lebens.

Nur einmal, erzählte Mari der Journalistin Carmen Butta, habe die vollkommene Verschmelzung mit seinem Sujet einen Konflikt in ihm ausgelöst: „Das war am 13. Mai 1981“, schreibt sie, „als da plötzlich etwas im Sucher des Arturo Mari anders war als sonst. Für die Dauer zweier Schüsse. Während des Attentats auf Johannes Paul II. verharrte Maris Auge wie festgeklebt an der Kamera. Er fotografierte. Zu seiner eigenen Überraschung drückte sein Finger auf den Auslöser, immer und immer wieder. Später war der Chronist in ihm froh, der Geschichte ein Dokument geliefert zu haben, aber Arturo – Arturo fühlte sich wie ein Verräter.“

Lücke 3: Im Restreich Karls des Großen

Das bekannteste aller Schlupflöcher ist das Campo Santo (10), so etwas wie der letzte übrig gebliebene Fleck vom Reiche Karls des Großen. Wenn nicht gerade der US-Präsident oder ein Konklave angekündigt sind, genügt es, sich vormittags am Petrianus-Tor (11) einzufinden, neben dem Sant’Ufficio, und den Wächtern mit fester deutscher Stimme zu sagen: „Zum Campo Santo, bitte.“ Schon öffnet sich die Sperre, und man kann die basaltbepflasterte Anhöhe hochlaufen, links den Parkplatz der Glaubenswächter, rechts die Rückenansicht der Kolonnaden. Entscheidend ist das teutonische Auftreten. Denn nur Teutonen haben Anspruch auf Zutritt. Das heilige deutsche Feld ist eine Enklave im Vatikan. Die 5000 Quadratmeter gehören nicht zur Vatikanstadt, aber auch nicht richtig zu Italien. Sie haben einen ähnlichen Status wie eine Botschaft: Das Campo ist italienisches Territorium unter vatikanischer Verwaltung, dessen zuständiges Land es seit gut 200 Jahren nicht mehr gibt, nämlich das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Es ist vollkommen unklar, vor welchem Gericht (außer dem himmlischen) sich ein Rektor des hiesigen Seminars Collegio Teutonico zu verantworten hätte, wenn er auf dem Campo ein Verbrechen verüben würde. Rector in campo santo est Papa in territorio suo, heißt er unter den Studenten: Der Rektor des Campus ist hier sein eigener Papst.

Über dem Eingang steht ebenso knapp wie zutreffend: Carolus Magnus me fundavit - „Karl der Große hat mich gegründet“. Im Jahr 787 soll Karl der Große veranlasst haben, eine Fuhre Originalerde vom Kalvarienberg in Jerusalem hierherzubringen, um ein Hospiz samt Friedhof anzulegen. Hübsche Legende. Wahrscheinlicher ist, dass im Mittelalter Erde aus Jerusalem hier zwischengelagert wurde auf dem Weg zum Friedhof in Pisa. Auf jeden Fall galt der Boden des Friedhofes seit dem 15. Jahrhundert als so heilig, dass sich viele Orte zur besonderen Weihe neu eingerichteter Begräbnisplätze etwas Erde von diesem Platz erbaten und sie mit päpstlicher Erlaubnis auch erhielten. Schließlich soll irgendwo hier schon Petrus märtyrisiert worden sein („Ist doch bloß ein Spiel!“, riefen Nero und Caligula). Heiliger geht's nicht. Friedhof und das angrenzende Teutonenkolleg sind bis heute einer beffchentragenden „Erzbruderschaft zur Schmerzhaften Muttergottes der Deutschen und Flamen“ anvertraut. Der weltliche Chef der Stiftung ist immer der amtierende Staatspräsident Österreichs, in der Nachfolge des Römisch-Deutschen Kaisers und des Kaisers von Österreich.

Vom Platz der Protomärtyrer, vorm Friedhof, hat man übrigens einen erstaunlichen Blick auf St. Peter. Der Dom sieht von hier betrachtet aus wie ein gewaltiger neoklassizistischer Fernbahnhof, monumental und etwas schmuddelig. Bekanntlich liegt das Wunder von Michelangelos Kuppel darin, dass sie umso größer und schöner ist, je weiter man sich von ihr entfernt.

Das Campo selbst ist ein enger, subtropischer Garten, getäfelt und gepflastert mit Grabplatten aus allen Jahrhunderten. Auf diesem Friedhof ist alles etwas feierlicher, und selbst das Becken für die Gießkannen ist ein Fundstück vom Forum Romanum. Dicht an dicht ruhen „Ritter des Zähringer Ordens“, Bothschaftsräthe s. k. k. Apostol. Majestät, stumm dahingeraffte Ordensschwestern, Archäologen, Maler, Mäzenatinnen und Prinzessinnen. Wer als Deutschrömer auf sich hält, der will im Campo Santo enden. Es gibt Leute, die ihr ganzes Leben darauf ausgerichtet haben, eines Tages hier zur Ruhe zu kommen. Die Inschrift „gestorben zu Rom“ auf dem Grabstein im Campo ist der fürnehmlichste Adelstitel des Deutschrömers. Um ihn zu bekommen, genügt es, beizeiten Mitglied der Bruderschaft zu werden. (Was allerdings mit etlichen, nicht enden wollenden Messebesuchen verbunden ist, über Jahrzehnte hinweg.)

Im Vatikan sind besonders die Dachterrassenfeste des Kollegs berüchtigt. Die Domherren von gegenüber haben sich ebenso oft wie vergeblich über den Lärm beschwert.

Während des Krieges war das Kolleg Zufluchtsort für etwa 40 Flüchtlinge, darunter viele Juden. Als die Deutschen Rom besetzten, war die Angst groß, wie nun die Gestapo den völkerrechtlichen Status des Gartens deuten würde. Es gelang dem damaligen Rektor Hermann Stöckle, die neuen Teutonen fernzuhalten. Er bekam täglich Anrufe vom Substitut Montini, dem späteren Papst Paul VI., doch noch weitere Menschen aufzunehmen, um sie vor der Gestapo zu retten. Neun Monate lang herrschte eine solche Enge im Kolleg, dass Nahrung knapp wurde und ein Flüchtling in einem Sarkophag schlafen musste. Doch auch die Geschichte des Campo Santo ist nicht ganz frei von Flecken und Furunkeln. An der VIII. Station des Majolika-Kreuzwegs („Jesus tröstet die weinenden Frauen Jerusalems“) liegt der Grazer Bischof Alois Hudal, auch genannt der „Nazi-Monsignore“. Hudal träumte vergeblich von einer Symbiose von Katholizismus und Nationalsozialismus, von Papst und Führer, und intervenierte später nichtsdestotrotz gegen die Judendeportationen aus Rom.

Nach Kriegsende saß Hudal unterm Madonnenbild in der deutschen Nationalkirche Santa Maria dell'Anima an der Piazza Navona und organisierte die „Rattenlinie“, ein klandestines Fluchthilfesystem, um neben diversen Gestrandeten auch Nazigrößen nach Südamerika, Spanien oder in den Nahen Osten zu schleusen. Über diese Fluchtroute flüchteten Josef Mengele, Adolf Eichmann, Hans-Ulrich Rudel, Franz Stangl und Klaus Barbie. Bereits zuvor hatte sich der deutsche Botschafter beim Heiligen Stuhl, Ernst von Weizsäcker, vor den alliierten Truppen auf den Campo Santo gerettet. Nach massivem politischen Druck trat Hudal 1952 als Rektor des deutschen Anima-Kollegs in Rom zurück. Und liegt jetzt auf dem Gottesacker in Original-Kalvarien-Erde und dennoch, so muss befürchtet werden, unversöhnt mit der Welt.

Ausgerechnet hier, im wissenschaftlichen Priesterkolleg Teutonicum (12), sammelte der junge Rolf Hochhuth 1959 das Material für seinen Stellvertreter, das Theaterstück über das schuldhafte Schweigen von Pius XII. zum Holocaust. Kurioserweise war eine von Hochhuths Quellen eben jener Bischof Hudal, der Pius XII. nie verziehen hat, zurückgestuft worden zu sein. Hudal packte voller Groll aus und erzählte, womöglich mehr, als der Wahrheit guttat. Auf jeden Fall bekam er seine Rache. Die Pforten zur Seligkeit blieben dem zwölften Pius verschlossen. Denn seit dem Stellvertreter war es dem Vatikan praktisch unmöglich, Pius XII. seligzusprechen.

Die Kirche auf dem Campo heißt Santa Maria dei Teutonici (13). Das Bronzeportal wurde 1957 von dem damaligen Bundespräsidenten Theodor Heuss gestiftet. Am unteren Rand ist ein Gewimmel von beladenen Gestalten zu sehen, eine Auferstehungsszene, in die der Kölner Bildhauer Elmar Hillebrand auch Namen seiner Freunde eingefügt hat, etwa den des Althistorikers Paul Egon Hübinger. Bevor er Papst wurde, las J. R. jeden Donnerstagmorgen um 7 Uhr hier eine Messe. Denn auch er gehörte zur Erzbruderschaft und tut dies immer noch. Eine der ersten Amtshandlungen von Joseph Ratzinger nach seinem Umzug nach Rom war, so erinnert sich der jetzige Leiter des Collegiums, die Einführung einer Karnevalsgesellschaft. Dass dieser Erzbruder einmal als Papst gehen würde, und dies nicht nur zur Faschingszeit, ahnte mal wieder keiner.

So weit, so gut. Doch all diese Wege führen nur in den äußersten Kreis des päpstlichen Reiches. Wer in die zweite Zone, das Gebiet des Cortile del Belvedere (14) oder zum Regierungspalast (15), gelangen möchte, muss sich etwas einfallen lassen. Wie gesagt, es hilft, sich als Bischof zu kostümieren, aber das ist nicht rechtens. Ansonsten geht man an den Schweizergarden vorbei zur Passierscheinstelle, dem Eingang links neben dem Brunnen. Denn jetzt bedarf es eines Visums. Den Schein bekommt zum Beispiel, wer ein Rezept für die päpstliche Apotheke (16) hat. Die Farmacia Vaticana in der Via della Posta ist der graue Drogenmarkt im Vatikan. Hier gibt es Medikamente, an die sonst in Rom nicht heranzukommen ist. Wer also den Beamten in der Passierscheinstelle am St.-Anna-Tor klarmachen kann, ein bestimmtes Medikament zu brauchen, der wird hereingelassen und kann am päpstlichen Postamt vorbei in die Via della Posta gehen.

Etwas schwieriger ist es, den nächsten Sicherheitskordon zu passieren, den Polizeiposten (17) vorm Cortile del Belvedere. Da hilft es nur, ein möglichst vergeistigtes Gesicht aufzusetzen und die Visastelle um ein Laissez-passer zu ersuchen, um sich etwa im Geheimarchiv für Studien zu akkreditieren. Das ist zwar praktisch ausgeschlossen, aber die Ablehnung des Antrags wiederum kann man sich nur vor Ort, im Geheimarchiv selbst, abholen. Man kann sich auch ein Empfehlungsschreiben einer Universität oder eines der in Rom ansässigen Auslandsinstitute (z. B. Deutsches Historisches Institut) beschaffen und einen Leserausweis für die Vatikanische Bibliothek beantragen (zwei Passbilder erforderlich!).

Der Ausweis kann dann jährlich problemlos erneuert werden.

Lücke 4: Der Tag der offenen Tür

Glücklicherweise gibt es alle Jubeljahre ein Konsistorium, an dem der Papst sein Kollegium personell auffüllt und neuen Kardinälen Ring, Titel und Mütze verleiht. Damit das Volk die Neuen begutachten und ihnen gratulieren kann, werden für einen Tag sämtliche Sicherheitsbedenken fallen gelassen, und das Bronzeportal (18) öffnet sich für Hinz und Kunz zum Tag der offenen Tür im Vatikan.

Es ist ein Albtraum, jedenfalls für die Schweizergarden. Überall ist freier Zugang, Loggien, Königssaal, Privatbibliothek und Konsistoriumshalle. In der marmorstrotzenden Sala Clementina, wo sonst auch US-Präsidenten nicht wagen würden, sich hinzusetzen, lümmeln sich dann fußschwache Touristinnen auf den Stühlen, irgendwelche Lutherlinge gratulieren wildfremden Kardinälen, und manchem ist es bei der Gelegenheit schon gelungen, frech bis zur Sixtinischen Kapelle (19) vorzudringen. Es ist Anarchie im Kirchenstaat und hemmungslose Flegelei in der Hochsicherheitszone des Katholizismus. Erzbischöfe drängeln sich mit Ordensfrauen und ordensbehängten Mitgliedern des diplomatischen Korps. Man riecht das Parfüm des schwarzen Adels und sieht Proselyten mit feuchten Augen vor den neuen Eminenzen in die Knie gehen. Mancher trägt das Kreuzfahrercape, andere ganz erstaunlich kurze Röcke, und alle knipsen sich vor Cherubino Albertis „Taufe des hl. Clemens“ oder lächelnd gelehnt an den Thron Petri. Und eine Touristengruppe aus Sevilla wollte eigentlich nur in den Petersdom, jetzt steht sie in der päpstlichen Bibliothek und wunderte sich, weshalb sie ihren Kardinal Amigo Valejo hier so ohne Weiteres treffen. Stand ja nicht in ihrem Reiseführer.

Wer die Gelegenheit zu solch einem Besuch hat, soll sie nutzen. Um sonst etwa in die Segensaula oberhalb des Portikus vom Petersdom zu kommen und aus dem Fenster zu winken, müsste man schon selber Papst werden.

Lücke 5: Der Geheimweg ins päpstliche Appartement und wie er zu nehmen ist

Bei der Restaurierung von Raffaels Fresko (20) „Brand im Borgo“ brach ein Techniker aus Versehen durch den Putz. Offenbar war die Konsistenz des Mörtels an dieser Stelle der Vatikanischen Museen eine andere gewesen. Zur Überraschung der herbeigeeilten Kunsthistoriker fand man gekochte Bohnen in den Putz gemischt: Einem von Raffaels Handwerkern war wohl sein Mittagessen in den Kübel gekippt. Das kann schon passieren.

Die Raffael-Stanzen mögen gut gemalt sein und mit Gewinn zu betrachten. Vor allem aber sind sie der Albtraum aller Sicherheitsleute im Vatikan. An keiner anderen Stelle im Vatikan kommen so viele Menschen so dicht an das Intimissimo des Papstes heran wie hier. Es trennt sie nur eine Türdicke von den Privatgemächern Benedikts bzw. ein in sich versunkener Wärter im weißen Hemd. Es genügt, den langen Gang der Karten zu durchschreiten, zwei, drei Treppchen zu nehmen, und schon steht man im Konstantinssaal. Von der Cappella Niccolina, im Nebenraum, lässt sich durch zwei Fenster ein Flur des Papstappartements sehen, jedenfalls Deckenleuchten und -bemalung. Im Saal Konstantins findet sich, unter dem Bildnis Clemens I. und der Inschrift „Comitas“ (Heiterkeit), eine Nottür. Sie führt in eine eigentlich unzugängliche Raffael-Loggia des Papstpalastes. Falls jemand im Konstantinssaal einen Herzanfall bekommt (oder vortäuscht), muss er über diesen Weg, also das päpstliche Treppenhaus, evakuiert werden, denn die Flure des Museums sind in der Regel verstopft.

Schon ist man drin.

Der abgedruckte Text ist dem Buch „Vatikanistan. Eine Entdeckungsreise durch den kleinsten Staat der Welt“ von Alexander Smoltczyk (Heyne Verlag, 16,95 Euro, 352 Seiten) entnommen, das jetzt erscheint.

Alexander Smoltczyk

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