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Brief von Bord, aufgegeben im letzten Hafen der „Titanic“. Foto: AP/dapd

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Reise: Als alle Spiegel zerbrachen Das Drama der „Titanic“ jährt sich zum 100. Mal.

In Belfast gibt es ein kolossales Gedenkzentrum, in Halifax liegen viele der Opfer begraben.

Der mattsilberne Stern ist mitten auf einer Baustelle gelandet. Seine scharfen Zacken ragen in alle vier Himmelsrichtungen, wie die Buge auseinanderdriftender Schiffe. Das neue „Titanic Belfast“, das Wahrzeichen von morgen, das an ein tragisches Gestern erinnert, wird am kommenden Sonnabend eröffnet. Und der Stolz darüber ist in der Stadt mindestens so groß wie der am 31. Mai 1911, als die „Titanic“ vom Stapel lief und 100 000 begeisterte Zuschauer ihr zujubelten.

Die Fakten des Dramas kann mittlerweile fast jedes Schulkind herunterbeten: Unsinkbares Luxusschiff mit sieben Decks, türkischer Sauna und eigenem Postamt, größtes seiner Art bis dahin, verlässt mit 1300 Passagieren und 901 Mann Besatzung am 10. April 1912 das englische Southampton. Sieben Heizer blieben zurück – sie hatten sich in einem Pub verplauscht, verpassten die Abfahrt und retteten so womöglich ihr Leben. Am 14. April um 23 Uhr 40 rammt der Luxusliner im Atlantik einen Eisberg und geht zwei Stunden und 40 Minuten später unter. Die „Carpathia“, ein Schiff der Konkurrenzlinie Cunard, nimmt 700 Überlebende auf, 1501 Menschen sterben. Nicht zuletzt, weil für die 2201 Menschen an Bord lediglich 1178 Plätze in den Rettungsbooten zur Verfügung standen. Ein Umstand, der Kapitän Edward John Smith nicht unbekannt war.

Weniger bekannt ist, dass der Luxusliner von 1909 bis 1912 von Harland & Wolff in der heutigen nordirischen Hauptstadt gebaut wurde. Deshalb geht es in dem neuen Erlebniszentrum mindestens genauso sehr um Belfast, die prosperierende Industriemetropole zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wie um die Titanic selbst. So vermeiden die Beteiligten die Diskussion, ob eine Katastrophe tatsächlich der richtige Anlass ist, den Tourismus anzukurbeln. Und die Ausstellung erschöpft sich nicht in der Wiederholung längst bekannter Untergangsgeschichten.

Belfast war reich geworden durch die Produktion von Leinen und Tauen sowie die Verarbeitung von Tabak und Whiskey. Im Schiffsbau allein arbeiteten 11 000 Männer. In der „Werft“ des neuen Zentrums riecht es nach Öl und heißem Stahl, Hämmer krachen auf Eisenplatten, und die Eimer mit Nieten und die hölzernen Streben neben dem riesigen Ruderblatt liegen so willkürlich durcheinander, als wären die Arbeiter eben erst in den Feierabend abgerückt. Eine bewegte Gondelfahrt führt entlang der hoch aufragenden, eisernen Schiffswand und durch das Stahlgerüst, das extra für den Bau der „Titanic“ und ihrer beiden Schwestern „Britannic“ und „Olympic“ errichtet wurde.

In insgesamt neun Bereichen auf sechs Stockwerken erwacht die damalige Epoche zum Leben – und dies mit modernster Illusionstechnik. In Kabinen der ersten, zweiten und dritten Klasse erzählen projizierte Figuren von ihren jeweiligen Annehmlichkeiten, und auch bei den Untersuchungen nach dem Untergang sind jede Menge virtueller Köpfe im Einsatz. Man erfährt, dass 45 000 Servietten und 18 000 Bettlaken an Bord genommen wurden, im Funkraum tickt ununterbrochen der Morsespruch, der der Welt das Desaster ankündigte, und auf einer Riesenleinwand läuft ein Unterwasserfilm, der das Wrack in 3800 Meter Tiefe zeigt.

Ganz oben hat die Belfaster Firma Oldtown Joinery die sogenannte Große Treppe des Schiffes nachgebaut, aus Eiche und in Annäherung an das Original. Künftige Hochzeitspaare zelebrieren hier den Auftritt ihres Lebens, gekrönt noch von dem folgenden Moment im gläsernen Bug, in dem sie sich nach vorn lehnen, die Arme ausbreiten und ein filmreifes „Ich bin der König der Welt“ ausrufen – hoch über der Slipanlage, auf der die „Titanic“ tatsächlich zusammengenietet wurde.

Neben dem neuen Zentrum finden sich zahlreiche andere Spuren des Luxusliners in Belfast. Da ist die riesige Badewanne des Trockendocks, in der er gestrichen wurde und seine Propeller erhielt. Die „Nomadic“, das Tenderschiff, das die Passagiere in Cherbourg an Bord brachte, wird gerade eben restauriert und ist mit den gleichen Säulchen und Girlanden geschmückt wie ihre ganz große Schwester. Und im Ulster Folk & Transport Museum sind in der Ausstellung „Titanica“ beispielsweise ein zerschlissenes Hemd, Spielkarten und ein zerbrochener Spiegel zu sehen, die sich in einem Lederkoffer am Grunde des Atlantiks einigermaßen erhalten hatten.

Im angeschlossenen Freilichtmuseum trifft man auf Darsteller historischer Berufe, die ihren Teil zur großen „Titanic“-Saga beitragen. So prägt der Drucker auf seiner 200 Jahre alten Maschine die Eintrittskarten zum Stapellauf. Im Kohlelager erzählt „Coal Clerk“ Paddy Mulvena, studierter Geograf, dass die „Titanic“ wegen des Kohlestreiks in Europa ihre Brennstoffvorräte bei sechs anderen Schiffen auffüllen musste. 650 Tonnen Kohle verbrauchte sie am Tag, 200 Mann waren in den Maschinenräumen tätig. Im Kesselraum herrschten Temperaturen von 50 Grad, weshalb die Männer nach vier Stunden völlig dehydriert abgelöst werden mussten und fix und fertig in die noch warmen Betten ihrer Kollegen fielen.

„Wir Nieter hießen bei manchen die ,Millionäre der Werften‘ “, verrät John Savage, ein Ingenieur im Ruhestand. Drei Millionen Nieten, mehr als ein Zentimeter dicke Eisenstifte, hielten die „Titanic“ zusammen. Sie wurden im Feuer erhitzt und noch rotglühend einem Jungen zugeworfen. Der fing sie in einem Lederkorb und rannte damit zum Team der Nieter, wo ein Mann sie durch die Löcher zweier Stahlplatten steckte und die beiden anderen sie festhämmerten. Dafür gab es zwischen 30 und 35 Schilling die Woche, ein einfacher Arbeiter verdiente 20 Schilling. Obwohl man leicht mal einen Finger oder ein Auge einbüßen konnte, waren es hochbegehrte Jobs.

Radikaler Ortswechsel. 4200 Kilometer nach Westen. Kanada, Halifax, Fairview-Friedhof. Hier liegen sie. Unter den Grabsteinen mit Namen, oder den 44 Steinen nur mit Nummern, die alle das gleiche Datum „April 15, 1912“ tragen, haben 121 Menschen ihre letzte Ruhe gefunden. Alle kamen sie beim Untergang der „Titanic“ ums Leben.

Die schwarzen Granitsteine sind in drei Reihen angeordnet, die zufällig wie die Linien eines Schiffsbugs verlaufen. William Denton Cox, der Steward, der dafür sorgte, dass auch Dritte-Klasse- Passagiere ihre Rettungsboote fanden, liegt hier, ebenso wie ein Jakob Alfred Wiklund, an dessen Grab eine schwedische Flagge steckt. Irgendwo dazwischen findet sich das Grab von Joseph Dawson, Nr. 227, der tief im Bauch des Ozeanriesen Kohle schippte. „Jack Dawson“ nannte Regisseur Cameron den Titelhelden seines Blockbusters, aber Leonardo di Caprios Figur hat keine Ähnlichkeiten mit dem wirklichen Dawson. Trotzdem legt immer mal wieder jemand Blumen dort nieder.

Wie aber kommt es, dass diese Toten auf einem Friedhof der Hauptstadt der Provinz Nova Scotia (Neuschottland) ruhen, rund 1100 Kilometer westlich der Untergangsstelle im Atlantik?

Im Maritime Museum of the Atlantic ist der „Titanic“ eine eigene Abteilung gewidmet. Zwei Tage nach dem Untergang fuhr die „Mackay-Bennett“ hinaus, ein Schiff, das normalerweise zur Reparatur von Überseekabeln eingesetzt wurde. Es bestand von Anfang an wenig Hoffnung, noch Überlebende zu finden. Drei Tage dauerte es, um an die Unglücksstelle zu gelangen – dann der Schock, selbst für Seeleute, die hart im Nehmen waren: „Das Meer war übersät mit Wrackteilen, Trümmern und Leichen, die erfroren in ihren Schwimmwesten in der kalten See auf und ab schwappten“, schrieb einer später.

306 Tote holten die Männer an Bord. Da sie nicht ausreichend Särge und Eis dabei hatten, bestatteten sie eine ganze Reihe von ihnen gleich auf hoher See. Als die „Mackay-Bennett“ mit ihrer traurigen Fracht in Halifax einlief, hatte die Stadt schwarz geflaggt, und alle Kirchenglocken läuteten. Man brachte die Opfer auf das Gelände einer Eisbahn, auf dem heute Ron’s Army Store Stiefel, Spaten und Regenponchos verkauft. Besonders prominente Tote wurden in den Räumen des Beerdigungsinstituts John Snow & Co versorgt – jetzt serviert dort das Restaurant „The five Fishermen“ erstklassigen Hummer. Die aus der See gefischten Wrackteile sind heute im Museum ausgestellt.

Nur 59 der identifizierten Leichname wurden von ihren Verwandten in die europäische Heimat zurückgeholt, die verbleibenden 150 setzte man auf drei Friedhöfen von Halifax bei. Die Beerdigungen fanden zwischen dem 3. Mai und dem 12. Juni 1912 statt – das tragische Ende einer Geschichte, die auf der anderen Seite des Ozeans so glanzvoll begonnen hatte.

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