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Indien

© Christina Franzisket

Indien-Blog (5): Leben und Sterben am Ganges

1500 Kilometer will Christina Franzisket gemeinsam mit einer Freundin durch Indien reisen, um den Mythos des Ganges zu ergründen. In ihrem Blog berichtet sie von ihren Abenteuern. Diesmal: Die Bedeutung des Ganges

Unser Zug fährt zwei Stunden zu spät in den Bahnhof von Varanasi ein. Es ist halb zwei in der Nacht. Hoffentlich ist jemand von unserem Hotel da, am Telefon versprachen sie uns abzuholen. Wenn nicht, müssen wir die restliche Nacht in einem Frauenwarteraum am Bahnhof verbringen. Es ist viel zu gefährlich, um diese Uhrzeit auf den Straßen herum zu laufen oder gar ein Taxi zu nehmen.

Mit einem lauten Krachen öffnet einer die Zugtür. Davor drängt sich bereits  eine Menschenmenge, nein, eher eine Männermenge. Alle recken ihre Hälse, suchen nach bekannten Gesichtern, einer hat tatsächlich ein Schild in der Hand auf dem steht "Husanne". Wir begrüßen einander und er geht schnellen Schrittes voran. In der Bahnhofshalle laufen wir vorsichtig an den Schlafenden  vorbei. Auch auf dem riesigen Parkplatz vor dem Bahnhof liegen sie in Scharen. Jeder Zentimeter ist von Körpern bedeckt: Männer, Frauen in Saris und ihre Kinder daneben. 

Mit einem Tuk-Tuk werden wir zu unserem Hotel gefahren. Es ist finstere Nacht, doch unter den Straßenlaternen hocken viele Männer am Straßenrand. Es wird Chai gekocht, geschwätzt, oder vor sich hingestarrt. Andere schlafen auf den Bordsteinen, neben ihnen Straßenhunde.

Plötzlich hält unser Fahrer an, kein Hotel in Sicht, nur eine dunkle Gasse, in die der Fahrer ohne ein Wort zu sagen verschwindet. Wir hasten hinterher. Die Gassen werden enger, der Fahrer geht schneller. Jetzt kriegen wir es mit der Angst zu tun. Wohin will er mit uns? Doch es nützt nichts, wir folgen ihm. Ohne Orientierung verlieren wir uns im Gewirr der Gänge, werfen uns besorgte Blicke zu.

Als wir den Namen unseres Hotels lesen, ist die Erleichterung unendlich groß.  Ein verschlafener Mann öffnet und bringt uns in ein Zimmer. Doppelzimmer mit Klimaanlage, indische Sauberkeit, Dusche mit Kaltwasser und Ministrahl. Wir sind glücklich.

Morgendämmerung über dem Heiligtum in Varanasi.
Morgendämmerung über dem Heiligtum in Varanasi.

© Christina Franzisket

Nach einer kurzen Nacht entdecken wir, dass die Terrasse vor unserem Zimmer direkt am Ganges liegt. In der Morgendämmerung schießen Schwalben durch die Luft, dicht über dem braunen Wasser erhaschen sie sich ihr Frühstück. Es ist still, nur das leise Summen eines Hotelangestellten, der auf einem Stuhl sitzt und den Ausblick genießt, ist zu hören. Das gegenüberliegende Ufer ist im Dunst des Morgens kaum zu sehen, Wolkenfetzen malen ein bizarres Bild. Unten am Fluss sehen wir Menschen im Ganges baden. Wir ziehen los.

Zu dieser Stunde sind die Gassen nicht mehr dunkel und leer. Viele Menschen wuseln hindurch. Links und rechts Shops mit Tüchern, T-Shirts, Räucherstäbchen. Sadhus, auch Babas genannt, kommen uns entgegen. Es sind hinduistische Bettelmönche. Sie haben ihr altes Leben aufgegeben, ihren Besitz, ihre Familien, haben allem Weltlichen entsagt. Sie kommen nach Varanasi, um sich hier ihrem Geist und den Göttern zu widmen. Sie meditieren, kiffen und warten auf den Tod. Alle tragen lange Bärte und Haare, den roten Punkt auf der Stirn, orange oder rote Tücher, mit denen sie ihr Gemächt bedecken, und einen Holzstock.

Wir setzen uns auf die Stufen eines Ghats, einer Treppe, die in das heilige Wasser hineinführt. Eine Frau und ihre Kinder sitzen auf einer Plattform im Wasser. Sie wäscht Kleider, die Kinder spielen, spritzen sich nass. Zwei Jungen angeln mit einem großen blauen Tuch. Ein Mann hat sich von oben bis unten eingeseift und lässt sich von der starken Strömung sauber spülen.

Wir sind nicht lange allein, ein Mädchen kommt und bemalt Susanne die Hände mit grellen Farben. Kleine Silberstempel taucht sie in ihre Farbtöpfchen und zaubert ein fantasievolles Bild auf Susannes weiße Haut. Ein Mann erklärt uns die Bedeutung des Ganges in Varanasi. "Hier lebte Gott Shiva, der Erschaffer von allem", sagt er und fährt mit seiner Hand symbolisch über den Fluss. "Wer hier am Ganges stirbt, der wird nicht wiedergeboren, sondern kommt direkt ins Nirwana", sagt er mit aufgerissenen Augen. "Ohne vom Totengott gerichtet zu werden. Danach strebt jeder Hindu." Wir sehen einen Saduh am Ufer sein oranges Laken im Wind trocknen. "Er badet jeden Tag in Mutter Ganga," erklärt der Mann. "Er wird bleiben, bis er eines Tages stirbt."

Christina Franzisket

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