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Reise: Bollywood mit Silberlöffel

In Goa ist es so bunt wie im übrigen Indien. Doch vieles ist anders: Die portugiesische Zeit hat den Alltag geprägt

Calizz – das klingt nach leichter Brise, Wellen und Sonne. Ein bisschen wie Cadiz, das spanische Surfermekka. An von Palmen gesäumten Stränden, wo einst Hippies ihr Dorado entdeckten, ist auch Calizz zu finden. An diesem Ort in Goa wartet auf Besucher eine Zeitreise in die Geschichte des kleinsten indischen Bundesstaats im Südwesten des Subkontinents.

Von 1510 bis 1961 herrschten die Portugiesen in diesem Teil des heutigen Indien. Calizz, das bedeutet in der goanischen Sprache Konkani Herz, und für Nandan Kudchadkar ist sein Freilichtmuseum das „Herz Goas“. Der Reiz Goas, meinen viele seiner Landsleute heute, hat viel mit der 450 Jahre langen Verbindung nach Portugal zu tun. Dieses Band unterscheidet den Bundesstaat von seinen Nachbarn. Goa ist mit seinen 1,4 Millionen Einwohnern und gut 100 Kilometer Küstenlinie schon heute nach Rajasthan der bei Touristen beliebteste Teil Indiens.

Und es sollen noch mehr Besucher kommen – zunehmend gehobenes Publikum aus Europa. Menschen, die die legendären Strände genießen und Delfinen auf Booten nahe sein wollen. Abenteuerlustige, die sich als Felskletterer über dem Abgrund versuchen möchten. Menschen vor allem, die ins farbenprächtige Indien reisen, es aber etwas ruhiger wünschen als in der Hektik Bombays oder Delhis, fern dem unübersehbaren Elend in Kalkutta. Gäste sind erwünscht, die noble Fünf-Sterne-Hotels mit ihrem aufmerksamem Service goutieren und dazu mehr erfahren wollen über die Geschichte der Region.

In der Nähe der Küste zeugen die vielen Kirchen in der Ex-Hauptstadt Old Goa von der Christianisierung, in der Hauptstadt Panaji sind die Spuren der Portugiesen unübersehbar, Hindutempel sind eher im Hinterland zu finden.

Seit kurzem können Besucher in der Nähe des Candolim Strands in Nordgoa im Calizz eine streckenweise skurril anmutende Reise durch die Jahrhunderte antreten. Blau-weiß gestrichen und ziemlich imposant ist das 1806 erbaute indo- portugiesische Haus von Donna Bertha, der Blickfang der Museumshäuser. Auf den Spuren ihrer imaginären Familie geht es durch die Geschichte. Kuriositäten inklusive. In der Arztpraxis des Sohnes sind Frauenurinal und Schwangerschaftstester aus Glas. Im Innenhof des Herrensitzes stapeln sich Tontöpfe für Kristallzucker (damals eine Kostbarkeit) aus Macau, in der riesigen Küche wachte Donna Bertha als Dame des Hauses auf einem Schaukelstuhl nahe der Tür über die Arbeit der Angestellten. Am Ende wartet die hauseigene Kapelle auf die Besucher.

Weiß getünchte katholische Kirchen sieht man in Goa auch außerhalb des Museums allenthalben. 167 sollen es insgesamt sein, allein in der alten Hauptstadt Old Goa stehen zehn.

Im Freilichtmuseum Calizz geht es zurück in die vorportugiesische Zeit. Das Hindu-Haus aus Lehm mit sehr kleinen Fenstern stammt aus jener Epoche, in der Frauen nicht mit Männern reden durften und Mädchen bereits als Acht- bis Zwölfjährige verheiratet wurden. Auch die indische Mythologie mit ihren vielen Göttern fehlt nicht. So finden sich auch Shiva mit seinen elf Inkarnationen und Lord Ganesha in Form seiner Lieblingsblume, als Schaumstoff-Hibiscus, die sich auf Knopfdruck mit großem Getöse bewegt. Disney auf goanisch. Damit muss die Entdeckungsreise noch nicht vorbei sein, denn das Calizz als modernes Eventmuseum bietet im hauseigenen Restaurant ein Mehr-Gänge-Menü mit lokalen Spezialitäten an.

Wer sich das wohl alles ausgedacht hat? Ein älterer Herr, der in der schnelllebigen Zeit die Traditionen bewahren will? Eine geschichtsgetriebene Feministin? Nicht ganz. Schwungvoll setzt sich ein dunkler Lockenkopf in türkisfarbenem T-Shirt mit Aufdruck „Wild Freedom“, Jeans und Bicolor-Uhr an die abendliche Tafel und wirft sein schnarrendes Blackberry-Handy auf den Tisch: Nandan Kudchadkar, 38 Jahre alt.

Hier hat er sich, so sagt er, einen Jugendtraum erfüllt: „Mit zwölf stand ich fasziniert im wunderschönen Salar Jung Museum in Hyderabad. Zwei Stunden lang brachte mein Vater mich nicht vom Uhrenschauspiel“, erzählt er lächelnd. „Eines Tages werde ich auch so ein Museum aufmachen“, habe er sich damals vorgenommen. Doch der Vater meinte, nur einer aus einer Milliarde Menschen baue ein Museum. Er solle zunächst einmal studieren. Also paukte Nandan Jura und Wirtschaft. Dann stieg er in die Bergbaufirma des Familienclans ein. Dort ist er heute für den Verkauf zuständig. Der Jungmanager ist nebenbei noch Besitzer der angesagten Stranddisko „Paradiso“, die er gerade vom Techno-Schuppen in einen exclusiven Club für ruhigeres Publikum umbaut.

Beim Erzählen über Goas Erbe gerät Kudchadkar ins Schwärmen – und als gebürtiger Südgoaner hat er gleich noch eine Empfehlung: Das Haus der Schwestern Figueiredo sollten wir mal anschauen, „das besterhaltene in Goa“. Die Villa im südgoanischen Loutulim gleicht eher einem Palast, seit 400 Jahren in Familienbesitz. Die sehr, sehr langen Zimmerfluchten sind über und über mit wuchtigen Möbeln und allerlei Pretiosen (einem intarsien-geschmückten Sekretär mit den Löwenfüßen, Porzellan aus China, Wandtellern und Familienporträts) ausstaffiert. „Museumsleute aus England waren schon hier und wollten gern einiges mitnehmen“, erzählt die Hausherrin. Nach Voranmeldung zeigen die Besitzer ihr Anwesen gern vor. In einem Flügel, dem Old Heritage Inn, kann man sogar übernachten.

Die allergrößte Attraktion aber ist Maria Lourdes, mit etwa 75 Jahren die jüngere der beiden Schwestern. Da die Ältere, Miss Georgina, heute unpässlich ist, schwingt Maria allein das Zepter in Haus und Küche. Mit strengem Gesicht erscheint sie erst, als alle Besucher bereits im Empfangssalon Platz genommen haben. Der Auftritt einer Dame: das Haar rötlich mit einem deutlichen weißen Wirbel rund um den Scheitel, dicke, runde Perlmutt-Ohrringe, Perlenkette, blaues Sommerkostüm und ein strenges Gesicht.

Kaum beginnt sie zu reden, schon ist es, als sei die Zeit zurückgedreht. Ihre Vorfahren waren ihrer Erinnerung nach die größten Landbesitzer Goas. Und genau so redet Maria Lourdes auch, die Goanerin mit portugiesischem Pass, die in der Regel das halbe Jahr in Portugal lebt. „Um ehrlich zu sein, ich nenne das Geschehen von 1961 (als die Portugiesen aus Goa vertrieben wurden, Anm. d. Redaktion) nie Befreiung, ich sage immer Deliberation. Ich muss Indien für nichts danken.“

Draußen über den Reisfeldern und Koskospalmen ziehen schwarze Gewitterwolken auf. Maria serviert portugiesische Teigtäschchen (Samosas) und Limonenlimonade. Sie selbst nimmt sich ein Glas Sangria („Ich trinke eigentlich keinen Alkohol“). Sie schimpft auf die Regierung und deren Landentwicklungspläne. Man habe doch eigentlich gar keine Regierung („Ich weiß, wir haben Mitglieder mit einem Portfolio“). Und: Haltung bewahren ist ihr Prinzip. Sie doziert, selbst als das Licht ausfällt. Das passiert in Goa öfter. Von solchen Kleinigkeiten lässt sich Maria Lourdes nicht irritieren.

Auf zur großen Tafel im Speisesaal. Es naht der Muschelmoment. Helle Schalentiere als erster Gang. „Die Besten“, sagt Maria Lourdes und schiebt ebenso elegant wie geräuschvoll das massive Silberbesteck über ihren Teller. Fast ohne Luft zu holen, erzählt sie nun von den Vorfahren („Wir wurden christianisiert“), den vielen Anwälten und Politikern in der Familie, brandmarkt Indira Ghandi als „Diktatorin in der Demokratie“, konstatiert, die Hippies („Sie sind alle weg“) hätten Goa für den Tourismus entdeckt, schließlich nimmt sie die Kurve zu Maggie Thatcher, die sie „dreimal getroffen“ habe. „Was immer die Menschen sagen, Margret Thatcher war eine, die sagte: ,Lass uns vorangehen.“ Thatcher habe die Jugend gerettet.

Am Tisch schauen alle irritiert auf ihre Teller – in den Muscheln ist nichts drin. Ein Versehen? Nun, es gibt ja Brot zum Stippen für die Brühe. Es kann wohl nur so sein, dass Maria Lourdes es so inszeniert hat, um erst einmal ohne vollen Mund während des Essens weiterreden zu können. Dann aber werden doch noch gut gewürzte Leckereien aufgetragen – und weitere Geschichten erzählt. Von Avancen der umstrittenen Regierung Salazar in Lissabon („Aber ich tue nur, was ich mag“) bis zu Lady Di („Eine der fünf wichtigsten Briten“). Nicht zu vergessen: Sie hat noch Pläne. Gemüse gebe es in Goa kaum, also will sie demnächst Brokkoli anbauen, um die jungen Menschen hier zu halten. Im Übrigen: Die Zukunft liege „in Turkey“, in der Truthahnzucht, verrät sie mit hochgezogenen Augenbrauen.

Auch Charles D’Silva will die Erinnerung an Goas Geschichte wachhalten. Er hat gleich sein ganzes Heimatdorf zum Museum erkoren. In Betul war der Mittdreißiger, der mit seiner Sonnenbrille und dem funkelnden Knopf im Ohr als Bollywood-Aspirant durchgehen könnte, früher Bürgermeister. Heute kommt er mit Touristen her, um ihnen manch vergessene Handwerkstradition wie die Produktion von Muschelkalk zum Weißen der Wände zu zeigen. Goa, wie es einmal war: Männer, die für den Schnaps Feni flink im Lendenschurz auf Palmen jagen; die blutjunge Dorfschönheit, die mit rotem Kleid, dunklen Zöpfen und türkisfarbenem Wasserkrug zu sehen ist, einige Frauen und ein alter Mann, die an der Wasserstelle Wäsche reinigen.

Auch das ist heute noch Leben in Goa, wo sie zu Recht stolz sind auf ihre hohe Alphabetisierungsquote. „Das Durchschnittseinkommen ist bei uns dreimal so hoch wie im indischen Mittel“, erzählen sie stolz Besuchern. Nach Ansicht von Charly ist in Goa allerdings längst einiges zu abgehoben. Vielleicht denkt er dabei auch an den Straßenbau. Dort, erzählt einer seiner Kollegen, arbeiten keine Goaner. Dafür werden Arbeiter aus dem Nachbarstaat Katarnaka angeworben, die nur auf Zeit bleiben. Charly bemerkt lakonisch: „Wenn du krank bist, sind fünf Ärzte zur Stelle. Aber wenn dein Wasserhahn tropft, kannst du zehn Klempner anrufen, keiner wird kommen. Uns fehlen die einfachen Dinge.“

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