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Reise: Das reisende Klassenzimmer

Unterricht mal anders: Sprachschüler lernen Englisch und dabei gleichzeitig Land und Leute kennen

Und wieder ist die Rechnung von Janet Muth-Dunford aufgegangen: Dieses Mal mitten im wassergetränkten Lake District, wo alles über die Stränge wächst. Efeu überklettert die Steinmauern, Hortensien stehen meterhoch, satt stolzieren die Fasane über die Wiesen. Ihr morgendliches Krächzen ist bis ins Badezimmer zu hören. Und außerdem ist da noch diese leise Stimme. Sie spricht Englisch, und sie gehört einem selbst.

Die meisten Sprachreisenden erleben an diesem ersten verregneten Morgen im Lake District dieselbe Überraschung: Beim Zähneputzen kreisen die Gedanken in Formulierungen, die eindeutig kein Deutsch mehr sind. Natürlich sind sie angereist, um ihre Sprachkenntnisse aufzupolieren. Doch keiner der Teilnehmer hat damit gerechnet, dass das so schnell und quasi im Schlaf passieren könnte.

Vor Jahren, als alle Welt von mobilen Büros sprach, kam auch Janet die Idee, ihren Schülern mehr zu zeigen als immer nur die Räume ihrer Sprachschule in Oxford. Beim „Travelling Classroom“ sind die Reiseleiter zugleich Sprachlehrer. Der Unterricht findet während der Rundreise in wechselnden Hotels oder auch mal im Grünen statt, sei es nun in Cambridge, in York oder eben im Lake District.

Gleich nach dem Frühstück treffen sich die Schüler zum Unterricht in der Hotel- bibliothek und vertiefen sich in William Wordsworths Verse. Der Dichter lebte in Grasmere, eine halbe Autostunde entfernt. „Have I got it at the right pitch?“, erkundigt sich die lokale Fremdenführerin nachmittags in seinem Wohnhaus. Die Frage versteht zunächst zwar kaum einer der elf Sprachreisenden. Aber kein Problem – Janet erklärt, dann wird einmütig genickt: Ja, grundsätzlich spricht die Wordsworth-Kennerin auf dem richtigen Niveau, das Tempo passt.

Deutsch ist seit dem ersten Abend nicht mehr zu hören. Das stand zwar so im Programm, geglaubt hatte es außer Biruta aber niemand. Die Chirurgin aus Koblenz war im Vorjahr bereits mit dem „reisenden Klassenzimmer“ im Süden Englands unterwegs. Deswegen kam ihr seit der ersten Begegnung am Flughafen kein deutsches Wort mehr über die Lippen. Da taten sich die anderen noch schwer. Schließlich ist es zunächst auch ein bisschen albern, miteinander Englisch zu sprechen, teils fehlerhaft und mit deutlichem Akzent, wenn die Teilnehmer allesamt aus deutschsprachigen Ländern anreisen.

„Nach zwei Tagen wird das allen ganz normal vorkommen“, verspricht Janet. Dabei hilft, dass immer jemand in der Nähe ist, der tadelnd die Augenbrauen hochzieht, sobald ein deutsches Wort entwischt: Neben Janet Muth-Dunford sind das Lydia Ziemke, ebenfalls Sprachlehrerin und Reiseleiterin, sowie Nora de Bievre, die Busfahrerin. So lernt man sich eben auf Englisch kennen, gewöhnt sich an Aussprache und Redetempo der anderen, überhört die Fehler der anderen und lebt mit den eigenen.

Jahrzehntelang hatte Barbara aus Hamburg während internationaler Kongresse ihr lückenhaftes Schulenglisch bedauert. Nun als Rentnerin hat sie endlich die Zeit zum Lernen gefunden. Anja wollte nicht so lange warten: Auch der 34-jährigen Personalentwicklerin fehlen die Sprachkenntnisse. Selbst Anne geht es ähnlich: Als Lehrerin unterrichtet sie zwar Englisch, war aber zuletzt vor 20 Jahren in England, und da rostet die Sprache doch etwas ein.

Wie lang die heutige Fahrt nach Cambridge noch dauere? Janet kontert mit einer Gegenfrage: „How long is a piece of string?“ Kurzum, die Antwort ist vertrackt: Wer weiß schließlich schon, wie lang ein Stück Schnur ist? Immer wieder muss die Karte studiert werden, weil Regenfälle die Straßen überschwemmt haben: „Detour“ heißt Umleitung, „sandbags“ schützen vor all dem Wasser, und längst wundert sich niemand mehr darüber, dass England so grün ist und der Efeu über alle Mauern lugt.

Beate Köhne

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