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Reise: Der Schatten des Hirsches Mit einem Ranger im Nationalpark Hainich – frühmorgens um sechs

Sonntag morgens um sechs Uhr – es ist kalt und noch nicht richtig hell. Am Mühlstein, dem zentralen Punkt im thüringischen Örtchen Craula, lassen ein paar junge Leute die Partynacht ausklingen.

Sonntag morgens um sechs Uhr – es ist kalt und noch nicht richtig hell. Am Mühlstein, dem zentralen Punkt im thüringischen Örtchen Craula, lassen ein paar junge Leute die Partynacht ausklingen. Langsam fährt ein Pick-up-Geländewagen heran, stoppt, und ein stämmiger Mann mittleren Alters steigt aus. Das Emblem auf seiner grünen Strickjacke weist ihn als Ranger aus. Mit Helge Graßhoff geht es in den Hainich Nationalpark.

Der Nationalpark selbst besitzt eine Fläche von 7600 Hektar. Er liegt im Hainich, einem bewaldeten Höhenrücken im Nordwesten Thüringens. Mit einer Gesamtfläche von etwa 16 000 Hektar ist der Hainich das größte zusammenhängende Laubwaldgebiet Deutschlands. Es liegt quasi in der Mitte Deutschlands – im Dreieck der thüringischen Städte Eisenach, Mühlhausen und Bad Langensalza.

Erst einmal geht es zum Craulaer Kreuz – Start und Endpunkt des gleichnamigen Wanderwegs. Normalerweise ist hier für Autos Schluss. Ranger Graßhoff hat jedoch einen Schlüssel für die Schranke, die Unbefugten mit Fahrzeug den Zugang verwehren soll. Hinter der Barriere ruckelt der Wagen durch das unwegsame Gelände. Plötzlich steht ein Reh im Scheinwerferlicht, das aber genauso schnell verschwindet, wie es aufgetaucht ist. Es ist nicht das letzte Tier, das die Besucher an diesem Morgen im Wald zu Gesicht bekommen.

Auf einer Lichtung wird der Wagen geparkt, die Insassen knöpfen ihre dicken Jacken zu und schultern die Rucksäcke. Mit der Taschenlampe in der Hand geht es zu Fuß weiter. Es sind nur ein paar Minuten bis zur Aussichtsplattform, einem großzügig ausgelegten Hochsitz. Die Dämmerung setzt ein – die ersten Sonnenstrahlen des Tages hellen das Laubdach des Waldes auf. Noch behindert Bodennebel den klaren Blick auf die Lichtung, eine Schneise auf dem ehemaligen Schießplatz, der nun mehr und mehr zum Urwald wird. Hier darf die Natur wieder Natur sein: Auf einer Fläche von rund 5000 Hektar steht im Nationalpark nutzungsfreie Laubwaldfläche.

Das kommt auch der Tierwelt zugute. Vom Hochsitz aus seien oft Rehe zu beobachten, erzählt Graßhoff. Doch noch ist kein Wild auszumachen. Dafür flattern zwei Dutzend Kolkraben vorbei. Ein Eichelhäher sucht nach Frühstück. Plötzlich, vielleicht 200 Meter vom Beobachtungspunkt entfernt, tritt eine Ricke mit ihrem Kitz auf die Lichtung und knabbert hier und da an den Ästen. Ab und zu schaut das Reh auf, um sich zu vergewissern, dass keine Gefahr droht. Nach 20 Minuten verschwinden die Tiere, die Beobachter steigen von ihrem Posten. Zweieinhalb Stunden auf dem Hochsitz reichen.

Nun geht es auf eine Wanderung durch den Hainich – dessen Name lässt sich übrigens vom mittelhochdeutschen „hagen“ ableiten, was so viel bedeutet wie „gehegter Wald“. Mit diesem Begriff wurden heilige, mit einer Hainbuchenhecke umzäunte Wäldchen bezeichnet. Hier auf dem Gelände des ehemaligen Schießplatzes ist der Baumbestand oft noch jung – die Äste und Zweige hängen tief in die Schleichwege hinein, die Helge Graßhoff kennt wie seine Westentasche.

Der Ranger weist auf eine Stelle am Wegesrand, an der das Gras etwas platt gedrückt ist, genauso wie auf der anderen Seite des Pfades. „Hier kommt das Wild durch“, erklärt Graßhoff. Ein paar Meter weiter steht der Besucher aus der Stadt etwas ratlos vor einem großen Matschloch. „Wildschweine“, sagt der Ranger kurz und knapp, um beruhigend hinterherzuschieben: „Gesundes Wild ist immer auf der Flucht vor dem Menschen.“ Angst vor aggressivem Borstenvieh ist also eher unbegründet.

Sogar Wildkatzen leben im Hainich. Sie mitten am Tage zu sehen, ist unwahrscheinlich – da müsste der Zufall mithelfen. Helge Graßhoff zeigt eine Mappe mit Fotos, auf denen die scheuen Tiere zu sehen sind. Fotografiert hat er die Katzen mit versteckter Kamera, die mithilfe eines Bewegungssensors auslöst.

Typisch für den Hainich sind viele kleine Schluchten. Hier und da liegen vom letzten Sturm gefällte Bäume am Boden. Rund 50 verschiedene Baumarten gibt es im Hainich. Dazu zählen Rotbuche, Eiche, Esche, Lerche und die seltene Elsbeere.

Ein kräftiges Knacken ist zu hören. Doch im Gehölz ist nur noch ein großer fliehender Schatten ausfindig zu machen – ein Hirsch. Um ein größeres Tier beobachten zu können, brauchen Beoachter viel Geduld und etwas Glück.

Die Spuren der Waldbewohner aber sind allgegenwärtig. Graßhoff weist auf einen Baum hin – auf dem Boden davor liegen faulende Holzstücke. „Da oben in dem Loch hat sehr wahrscheinlich ein Waschbär gehaust.“ Auch die gibt es im Hainich also. Ebenso wie Waldfledermäuse oder die vielen Spechtarten – Buntspecht, Grauspecht, Grünspecht und Wendehals zum Beispiel. 2028 Käferarten haben Biologen hier gezählt.

Wer den Wald in einer Höhe erleben möchte, in der sonst nur Vögel oder Insekten unterwegs sind, erklimmt den spektakulären, an der Thiemsburg gelegenen Baumkronenpfad: Er führt den Besucher in luftiger Höhe auf einer Länge von gut 300 Metern durch den Lebensraum Wald. Gefährlich ist das Ganze nicht, der Pfad hat die Breite ein Gehweges und ist mit Geländern gut gesichert.    Auch muss der Besucher kein Klettermaxe sein: Der mehr als 20 Meter hohe Aufstieg zum Baumkronenpfad kann mit dem Fahrstuhl überwunden werden. Wetterbedingt kann der hohe Weg im Grünen mal geschlossen sein.

Wer sich die Vielfalt des Hainich ansehen möchte, kann das aber jederzeit tun: „Zu den schönsten Zeiten gehört die Bärlauchblüte im Frühling“, sagt Graßhoff. „Und im Herbst die Laubfärbung.“

Informationen: Nationalpark Hainich, Bei der Marktkirche 9, 99947 Bad Langensalza, Telefon: 03603/390 70, Internet: www.nationalpark-hainich.de

Sven Appel

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