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Reise: Die Magie des Lichts

Hoch oben im Norden ist die Kunst durchsichtig. Auf einem Dutzend mannshoher Eisensäulen, direkt am Fjord, haben zwei Künstler gläserne Masken eingelassen.

Hoch oben im Norden ist die Kunst durchsichtig. Auf einem Dutzend mannshoher Eisensäulen, direkt am Fjord, haben zwei Künstler gläserne Masken eingelassen. „Fremskritt“ – Fortschritt, haben sie ihr Werk betitelt. „Wir sind froh, dass wir es haben“, sagt Alice, die Chefin vom Sandtorgholmen-Hotel. Denn nun könnten die Menschen auch noch was anderes sehen als nur Landschaft. Mehr als nur Wasser und Grün und Schnee auf den Berggipfeln, der auch im Hochsommer nicht verschwindet. Die warme Zeit ist einfach zu kurz. „Mitte Mai war meine Tochter aus Oslo zu Besuch“, erzählt Alice. Draußen vorm Hotel habe sie gesessen und geangelt. Es war bitterkalt. Und dann zog eine weiße Wand heran. „Was ist das?“, habe die Tochter erschrocken gefragt. „Schnee“, sagte Alice. Schnee um diese Zeit? Alice lächelt und sagt achselzuckend: „Dort unten in Oslo haben sie eben keine Ahnung von Nordnorwegen.“

Jetzt ist Juli, und der Winter hat wirklich Pause. Da macht die Sonne, was sie will – und geht überhaupt nicht mehr unter. Bis zum 27. Juli wird sie in der Provinz Troms nicht unter den Horizont sinken. Am rund 700 Kilometer entfernten Nordkap wird das erst am 30. Juli der Fall sein. Wie soll man schlafen, wenn die Nacht taghell ist? Im Sandtorgholmen-Hotel haben sie vorgesorgt und dicke, dunkle Vorhänge an die Zimmerfenster gehängt. Man muss sie aufziehen, um nachts um drei zu prüfen, ob die Sonne wirklich noch da ist. Tatsächlich, sie strahlt wie am Nachmittag.

Die Menschen hier kümmern sich nicht um solch natürliche Sachen. Sie arbeiten - und in der Freizeit angeln sie. Und damit das nicht langweilig wird, machen sie in Troms einmal im Jahr ein Spiel daraus. Dann geht es um den Millionenfisch. Am Salangenfjord wird eine markierte Meerforelle ausgesetzt, die dort dann unter Tausenden anderen herumschwimmen darf. Bis sie – vielleicht – geangelt wird. „Wer den Fisch herauszieht, bekommt eine Million Kronen“, sagt der Tourismusmanager John-Steve. Und das sind immerhin noch 125 000 Euro. „Im vergangenen Jahr hat ihn keiner erwischt“, sagt er. Macht nichts.Das gemeinsame Angelvergnügen hatten ja alle – und das macht hier oben glücklich genug.

Hinter der Tjeldsundbrücke schlängelt sich die Straße Nr. 825 an der Küste entlang gut 120 Kilometer bis Gratangsbotn. „Küstenkulturweg“ nennen die Norweger diese Route stolz. Die Berge scheinen hier direkt im Wasser zu wurzeln. Die faszinierende Landschaft könnte man auch durchs Autofenster genießen. „Aber“, sagt John-Steve, „wir wollen ja, dass die Leute auch mal aussteigen.“ An der Eisenskulptur „Sieben magische Punkte“ etwa. Wie eine vielfach verschlungene Riesenrosette liegt sie auf felsigem Grund am Ufer. Ein faszinierender Platz für dieses Kunstwerk ist kaum vorstellbar.

Wenn Modernes passt, soll es sein, finden die Norweger. Aber wichtiger noch ist ihnen, ihre alte Kultur zu pflegen. In Foldvik etwa haben die Fischer ihre Netze an imposanten Holzgestellen, den Nothjellern, aufgehängt. Bis 1950 ging das so. Von da an gab es Plastiknetze, die Nothjeller wurden überflüssig. In Foldvik hat man sie gerettet.

Wie mühsam und hart das Leben für die Fischer war, sieht man im Bootsmuseum in Gratangen. Da ist zum Beispiel die „Fuglø“. 1877 war sie als Schaluppe gebaut worden, 1924 mit einem Motor ausgerüstet und erst Mitte der fünfziger Jahre zum Kutter umgebaut worden. 120 Jahre nach der ersten Fahrt wurde das Schiff stillgelegt und hat – sorgfältig restauriert – im Museum einen Ehrenplatz bekommen.

Schwarz-Weiß-Fotografien an den Wänden zeigen Männer mit wettergegerbten Gesichtern, die keine Angst vor dem Meer hatten. Oder sie nicht haben durften. Denn mit Kuttern wie der „Fuglø“ mussten sie sich weit hinauswagen, manchmal, für den Seehundfang, sogar bis nach Neufundland.

Was im Nordmeer gefangen wird, landet heute schnell in den Restaurants. Auch in der „Lapphaugen Turiststasjon“, eine gemütliche Cafeteria auf dem Gratangsfjellet, wo man auch zünftig wohnen kann. Acht Hütten gibt es, einfache ältere und komfortablere neue. „Wir versuchen, den Standard zu heben“, sagt die junge Chefin Heide. „Die Leute werden anspruchsvoller.“ Und deswegen bemühen sie sich auch, die früher hier üblichen einfachen Gerichte kreativ zu verfeinern. „Aber norwegisch bleibt es“, sagt Heide mit Nachdruck. Kein Ort für Pizza und Burger, und Caffè Latte gibt es auch nicht.

Ob sie glücklich ist in dieser Zeit, wo die Sonne nicht untergeht, wollen wir wissen. Sie schaut verdutzt. „Ach, die Sonne“, sagt die blonde Frau. Die sei doch nichts besonderes, man gewöhne sich so schnell daran. Stattdessen schwärmt Heide vom Winterlicht. Es sei einfach nicht wahr, dass es im Januar nur dunkel ist. „Wie ein Gespenst“ züngele bisweilen eine grüne Flamme über das schwarze Firmament. Und manchmal changiere der Himmel von Pastellblau bis Tiefrot. „Etwas Schöneres gibt es nicht“, sagt Heide. „Als Kinder mussten wir mucksmäuschenstill sein, wenn das Nordlicht auftauchte. Und bloß nicht mit einem weißen Tuch zu ihm winken, sonst, so hieß es, holt es dich.“ Alle Kinder hier, da ist Heide überzeugt, seien mit entsprechenden Warnungen aufgewachsen. Und wir sind sicher, dass sie ihre kleine Tochter auch so erzieht. Es ist wohl besser, dem Nordlicht respektvoll zu begegnen.

Auf der Insel Senja geht es um die angestammten Geister Norwegens, die Trolle. Hier ist der weltgrößte zu besichtigen. Achtzehn Meter hoch ragt er in die Landschaft. Leif Rubach, ein gelernter Bühnenbildner, hat ihn 1993 geschaffen. Bis er sein Werk in Angriff nehmen konnte, bedurfte es einiger Überredungskünste. Viele lehnten das Projekt ab. „Auch, weil es drüben auf dem Berg einen echten Troll geben soll, den der Anblick vielleicht ärgern würde.“ Mittlerweile sind alle 243 Insulaner stolz auf die gigantische Attraktion, und Rubach durfte dem Trollmann im vergangenen Jahr sogar eine Trollfrau zur Seite stellen. „55 000 Besucher kommen im Jahr“, sagt der Künstler. Das sei für norwegische Verhältnisse eine enorme Zahl.

Im Bauch des schrägen Wesens hat Rubach verschiedene Trollstillleben kreiert. Hier hängen die komischen Gesellen am Faden, da brauen welche einen Trunk mit 110 Prozent Alkohol, dort drücken sie die Schulbank. Hinter jeder Szene steckt eine alte Sage. Alles wirkt wie in einer Märchenhöhle der fünfziger Jahren, als man noch nichts wusste von Multi-Media-Spektakeln und anderem Gedöns.

So sind wir nicht ganz sicher, ob deutsche Kinder hier so glänzende Augen bekommen wie die norwegischen, die begeistert auf die skurrilen Wesen zeigen. Leif Rubach, der mit seinen langen grauen Haaren selbst ein bisschen wie ein Troll aussieht, stört das nicht. Es ist, als habe er sich mit dem wunderlichen „Freizeitpark“ seinen eigenen Kindertraum erfüllt. „Wir haben sogar eine Poststelle“, sagt er. Dort wird der Briefmarke ein Trollstempel aufgedrückt, bevor sie samt Karte auf die Reise geht. „Alles amtlich genehmigt“, sagt Rubach zufrieden.

Reiner Schaufler aus Karlsruhe kam vor 15 Jahren nach Senja. Wegen der Liebe – und wegen der Landschaft. „Hier gehe ich nie mehr weg“, ist er überzeugt. Warum? Da sagt er wie aus der Pistole geschossen: „Na, schauen Sie doch raus. Haben Sie schon was Schöneres gesehen?“ Wir blicken auf türkisfarbenes Wasser und muschelweiße Strände. „Wie in der Karibik“, schwärmt Schaufler. Und schränkt ein: „Okay, wärmer als 16 Grad wird das Wasser nicht.“ Und in der Karibik rücken einem die Berge auch nicht so nah – und haben nicht so wilde Zacken.

Schaufler hat Theologie studiert, nun sei er „Mädchen für alles“. Ist Wander- und Bootsführer und macht vor allem schöne Fotos, aus denen Postkarten werden und Poster. „Hier oben fragt niemand, was man früher studiert oder gearbeitet hat. Wichtig ist nur, ob das, was man anbietet, gut ist und gebraucht wird.“ Deshalb organisiert er in einer ehemaligen Fischfabrik, dem „Krähenschloss“, seit vier Jahren ein Musikfestival. Namhafte norwegische Künstler seien schon aufgetreten, mit Jazz, Folk und samischer Musik. Eben solche, die in die Gegend passt.

Man kann auch – einfach und ein bisschen verrückt – wohnen im „Kranichschloss“. Aber wir entscheiden uns dann doch für das nach einem Brand gerade fertig restaurierte Hotel „Hamn i Senja“. Es ist auf zwei Seiten von Wasser umgeben und hat eine tolle Terrasse. Ein guter Platz, um nachts um eins, mit Sonnenbrille und dickem Anorak, noch einen Drink zu nehmen. Die meisten Gäste können nicht aufhören, den gelben Ball zu fotografieren, der über dem Horizont festgenagelt scheint. „Ich muss vorher noch Datum und vor allem Zeit einstellen“, sagt ein deutscher Tourist aufgeregt. „Sonst glaubt mir doch kein Mensch, dass ich das Bild mitten in der Nacht geknipst habe.“

In Tromsø könnte man jetzt wirklich einen draufmachen. Denn von den rund 65 000 Einwohnern der Hauptstadt von Troms sind über 10 000 Studenten. Da gibt es Bars, Boutiquen, Diskos und sogar einen ausgezeichneten Cappuccino. „Die Mieten im Zentrum von Tromsø sind schon genauso hoch wie in Oslo", sagt John-Steve. Die Stadt ist angesagt, und auch immer mehr Touristen kommen her. Die meisten erreichen Tromsø mit dem Kreuzfahrtschiff. Im vergangenen Jahr haben 100 solcher schwimmenden Riesen im Hafen festgemacht. „So viele kann diese kleine Stadt eigentlich gar nicht verkraften“, sagt der Tourismusmanager.

Die Besucher laufen dann durch die autofreie Einkaufsstraße, gehen vielleicht ins Polarmuseum und – auf jeden Fall zur Eismeerkathedrale. 1965 hat sie der Architekt Jan Inge Hovik gebaut: Stilisierte Eisplatten, unregelmäßig aneinandergeschoben, bilden das Dach, die dreieckige Eingangsfront ist aus klarem Glas. Auch die Rückseite war durchsichtig. „Da schien die Sonne rein und blendete die Gemeinde beim Gottesdienst.“ sagt John-Steve. „Vorn predigte der Pfarrer, aber wegen der Sonne sah man nur eine schwarze Figur.“ Die Leute beschwerten sich – und sieben Jahre später wurde das schlichte Glas durch „Die Wiederkunft Christi“, ein riesiges farbiges Glasmosaik, ersetzt. Der Architekt war empört. Zu Recht. Denn das Bunte zerstört den Zauber dieser Kirche, auch wenn sie trotzdem sehenswert bleibt.

Die Form des Gotteshauses soll sich Hovik von einer Bergformation auf der nahe gelegenen Insel Sommarøy abgeschaut haben. Auf die drei Zacken kommt man schwer hinauf, aber diverse andere Gipfel sind gut zu erklimmen. Unten sieht man dann karibisch blaues Wasser glitzern. Um diese Jahreszeit sogar nachts um drei.

Fortsetzung von Seite R1

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