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Beschaulichkeit ist am Prerower Strom im Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft Programm.

© Mauritius Images

Vorpommern: Warum die Schnepfe eitel ist

Der Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft steckt voller Geheimnisse. Eine Tour mit Ranger Bartz kann viele lüften.

Friedemann Bartz ist ein glücklicher Mensch. Denn fast immer darf er das tun, was er am liebsten hat: draußen sein. In Wald und Flur. Bei Wind und Wetter. In derber Kluft, mit Fernglas im Rucksack, zieht er wie ein Uhrwerk seine Runden – Tag für Tag, Woche für Woche, sommers wie winters. Bartz ist Ranger im Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft.

Bereits 1990 als eines von drei schützenswerten Gebieten in Mecklenburg- Vorpommern etabliert, ist Bartz’ Revier heute nach Besucherzahlen gemessen der beliebteste Nationalpark in Deutschland. 805 Quadratkilometer Ostsee und Boddengewässer, die Darß, Zingst sowie die Insel Hiddensee umschließen sowie 371 Kilometer Küste mit Stränden und Dünen, mit Windwatten und Sandhaken, mit Nehrungen, Kliffs und Salzwiesen.

Bartz’ engeres Revier ist Prerow auf dem Nord-Darß, einem der dynamischsten Küstenabschnitte der Ostsee. Ein kleiner Trupp Touristen hat sich zur Halbtagestour gesammelt. „Hier ist nichts so beständig wie die Veränderung“, sagt der gelernte Forstwirt zur Begrüßung und zeigt hinüber zum Darßer Ort.

Dort spült das Meer jedes Jahr bis zu zehn Meter Sand an, den Sturmwellen zuvor mit brachialer Gewalt vom Darßer Weststrand weggerissen haben. Ein rasanter Prozess: „Vor 300 Jahren noch stand das Wasser am Leuchtturm, inzwischen sind nördlich davon fast 2000 Meter Neuland gewachsen.“

Beim Marsch durch diesen Naturraum erklärt Bartz zunächst einige der Besonderheiten: Da gibt es etwa riesige Gürtel aus mannshohem Röhricht, das sich in verlandeten Seen immer weiter ausbreitet. Oder Wälder, die in Streifen stehen, weil sogenannte Reffe und Riegen – Sandwälle und alte Dünentäler – etwa hundert Mal auf dem Neudarß wechseln.

Der erste Halt ist die Adlerplattform. Nomen est omen. Gut einen Kilometer entfernt entdeckt Bartz vier Seeadler. Er reicht den Feldstecher herum und erzählt ein paar Fakten zum Vogel: „Seeadler könnten ohne Weiteres aus 70 Meter Entfernung Zeitung lesen“, gibt er zum Besten, „und damit meine ich nicht die Überschriften.“

Als kurz darauf ein pechschwarzer Vogel über die Köpfe der Besucher fliegt, entlockt das dem Ranger einen fesselnden Kurzvortrag zum Thema Kolkraben und deren Intelligenz. „Wenn Seeadlereltern eine Bedrohung für ihre Brut wittern, vielleicht weil ihnen ein Mensch zu nahe kommt, dann heben sie sofort ab. Genau darauf wartet der gerissene Rabe und holt sich seine Mahlzeit.“

Womit Bartz bei seiner Hauptaufgabe angekommen ist: Die ihm anvertraute Natur gilt es zu schützen. Pflanzen und Tiere sollen so ungestört wie möglich bleiben, Übergriffe des Menschen gilt es zu verhindern – so steht es zum Beispiel in der Nationalparkverordnung. Eine Sisyphosarbeit: Immer wieder etwa hat Bartz es zu tun mit Zeitgenossen, die sich angeblich verirrt haben, die Warntafeln ignorieren, über Zäune klettern, die Bohlenstege verlassen oder Hundeleinen für überflüssig halten.

Mitunter mit verheerenden Folgen. Aus Dummheit und Unkenntnis zertrampeln des Lesens scheinbar unkundige Sportsfreunde und entfesselte Hobbyfotografen die empfindliche Dünenvegetation, stören brütende Vögel oder bringen diese sogar in Lebensgefahr. „Nehmen wir mal den Sandregenpfeifer“, doziert Bartz. „Dieser Vogel baut kein Nest, sondern kratzt kleine Steinchen zusammen, auf denen er seine Eier ablegt. Als Laie können Sie diese Gelege aber nicht vom Untergrund unterscheiden und latschen eventuell drauf – das war’s dann.“

Obwohl ihn so schnell nichts aus der norddeutschen Ruhe bringt – in solch frevlerischen Fällen kennt der Ranger kein Pardon: 35 Euro Verwarnungsgeld werden fällig. Als Sofortkasse oder auch mal per Überweisung: „Im Normalfall geht das problemlos ab, weil die meisten Leute doch ziemlich einsichtig sind.“

Viel lieber ist dem 58-Jährigen allerdings, wenn er ausgiebig einem anderen Aspekt seiner Tätigkeit frönen kann – Besucher von „seinem“ Nationalparkrevier zu begeistern. Dabei spielt es keine Rolle, ob Touristen kommen, Schüler, Studenten, Biologen oder Vogelkundler – an Ort und Stelle kann Bartz dem Affen Zucker geben, und er tut es mit Inbrunst und Leidenschaft.

Ob er beschreibt, wie sich viele einsame Sandkörner letztlich zu einer Primärdüne aufbauen; ob er den Strandhafer preist, der mit wäscheleinelangen Wurzeln im nährstoffarmen Quarzsand überlebt; ob er von der Schwarzen Krähenbeere schwärmt, in deren Schatten Kiefernsamen ein ideales Wachstumsmikroklima vorfinden; ob er zeigt, wie Sand und Salz die Windflüchter so abschmirgeln, dass sie vor dem Westwind tatsächlich zu fliehen scheinen; was er auch erzählt – die Besucher hängen an seinen Lippen.

Auf der nächsten hölzernen Kanzel sind es die Vögel, über die Bartz Erstaunliches zu berichten weiß. 130 Arten brüten im Nationalpark, die größten Populationen stellen Wasser- und Watvögel: Kormorane, Lappentaucher, Enten, Kraniche, Rallen, Stelzenläufer, Regenpfeifer, Schnepfen, Möwen, Seeschwalben. Bartz kennt sie alle, aber auch für den Fachmann sind manche nicht immer leicht zu identifizieren, „weil sie ständig ihre Kleidung wechseln – wie Frauen“.

Vier Stunden hält der Ranger so seine Begleiter auf Trab. Mit Geschichten und Sprüchen, mit Anschauungsmaterial wie Wurzeln und Federn, Donnerkeilen und Hühnergöttern malt er ein buntes Bild vom ewigen Kreislauf des Werdens und Vergehens in diesem einzigartigen Lebensraum. Und obwohl er dabei nur einen Bruchteil seines Repertoires ausschöpft, sind die Festplatten in den Köpfen seiner Gäste irgendwann voll. Was er erreichen wollte, hat er jedenfalls mühelos geschafft: Mit geschärften Sinnen sehen alle die Nationalparkwelt jetzt ein bisschen wie er selbst – und ganz anders als zuvor.

Dass Menschen wie Bartz erheblich zur Popularität des Nationalparks beitragen, sieht er mit einem lachenden und einem weinenden Auge: „Natürlich ist es großartig, wenn viele Interessierte dieses wundervolle Fleckchen Erde entdecken; bei etwa einer halben Million Besucher allein in diesem Revier sind wir – Natur und Ranger – jedoch auch an der Grenze der Belastbarkeit angekommen.“

Dennoch: „Ranger ist und bleibt für mich der schönste Beruf auf der Welt“, sagt Friedemann Bartz zum Abschied und verschwindet im Schilf. Für den Rest des Tages wird er auch ganz ohne Gruppe wieder ein glücklicher Mensch sein.

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