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Bei Ebbe ist Elizabeth Castle vor St. Helier trockenen Fußes zu erreichen. Bei auflaufendem Wasser sollte jedoch niemand mit dem Rückweg zu lange warten.

© picture alliance/ J. Kruse

Kanalinseln: Das Meer ist immer pünktlich

Vor den Kanalinseln Guernsey und Jersey eröffnet sich bei gewaltigem Tidenhub jeden Tag zwei Mal eine bizarre Welt.

Das Meer hat sich weit zurückgezogen. Leer und ausgewaschen liegt das Watt zwischen den Felsen. Kilometer um Kilometer eine Ödnis wie am ersten Tag. Heller Sand und schwarzer Stein, wie hingeworfen in der Genesis, als habe Gott sich nicht entscheiden können zwischen Land und Meer; überall stehen Tümpel und Wasser rinnt in Prielen einem Ozean zu, der nur darauf wartet, bald alles wieder zu ertränken. Zwei Mal jeden Tag ist hier Erschaffung, zwei mal wieder Untergang. Dem Seehasen ist’s egal, der wartet in seinem kleinen Tümpel auf die Rückkehr des Meeres. In dieser Zwischenwelt vor den zu Großbritannien zählenden Kanalinseln hausen Kreaturen, die man sonst nicht so einfach kennenlernt.

Nirgendwo anders auf der Welt (abgesehen von der Bay of Fundy in Kanada und im Bristol Channel) ist der Tidenhub so gewaltig. Bis zu zwölf Meter. Kaum anderswo tritt bei abgelaufenem Wasser eine so bizarre Landschaft zutage, wie vor den Inseln im Kanal. Jersey vergrößert sich bei Niedrigwasser um rund ein Drittel. Und groß muss die Vorsicht derjenigen sein, die in der Royal Bay of Grouville herumstapfen. Wer sich verläuft oder verrechnet, wird im Meer verschwinden. Deswegen nie – und wirklich niemals! – allein hier unterwegs sein.

Gut, dass eine versierte Führerin wie Trudie dabei ist. Sie weiß um die Wege im Nirgendwo. Und Trudie weiß auch, was in dieser Zwischenwelt zuhause ist. Zwischen den Felsen weht eine kühle Luft. Sie schmeckt köstlich; salzig und nach Meer. Auf die Zunge legt sich der Geschmack von Austern, die hier wachsen und in großen Säcken gezüchtet werden. Die Frische des Meeres und einige der zurückgebliebenen Bewohner sind appetitanregend; Hummer verstecken sich unter Felsen in den Tümpeln, manch Fisch bleibt auch gefangen; an den Steinen kleben manchmal Pazifische Austern, Jakobsmuscheln findet der Suchende mit Glück in den Prielen. Und am Meeresboden liegen meterlange Pflanzen – Seetang.

Das Meer lässt kulinarische Köstlichkeiten zurück

Trudie hebt ein großes Gewirr auf, Wasser strömt aus den Blättern, die an den Stengeln wachsen. Die sind lang und elastisch wie ein Gartenschlauch. „Das ist Fingertang, auch Kelp genannt. Gemeinsam mit anderen Tiefwasser-Tangarten bildet er dschungelgleiche Unterwasser-Wälder. Kleine Stückchen genügen, um in einer Fischsuppe wunderbar das Aroma des Meeres zu unterstreichen“, erklärt sie. Das Meer beschert dem Besucher also nicht nur ein außergewöhnliches Wandergebiet, sondern lässt auch kulinarische Köstlichkeiten zurück.

Etwas von dem Seetang nimmt Trudie mit, da kann sie in der Küche später was draus machen. Meersalat füllt schnell den kleinen Plastikbeutel, Zutat für das geplante Risotto mit Meeresfrüchten sowie getrocknet im selbst gebackenen Brot. „Und zum Abendessen geht ihr am besten zu Daniel Bracewell nach St. Aubin, da könnt ihr das hier ein zweites Mal genießen.“ Sagt’s und deutet auf diese Zwischenwelt vor der Küste.

Das Meer kommt zurück und bringt Kühle und Wolken mit. Wir marschieren zum großen Strand von Grouville, der halbmondförmig zwischen Klippen vor der Steilküste liegt. Auch die Arbeiter von der Austernfarm packen ihre Erntesäcke auf den Anhänger und fahren mit dem Traktor zurück zum sicheren Strand.

Und den muss man nach der Wanderung in der Zwischenwelt wiederfinden, will man nicht vor einer Felswand stehen, wenn das Wasser wieder da ist. Die Küste von Jersey ist im Osten und besonders im Norden von Felswänden gesäumt, die 100 Meter in den Himmel ragen. Dazwischen liegen Bilderbuchstrände – mal groß, mal klein und verborgen. Zu erreichen sind sie mitunter nur mit dem Kajak. Trudies Mann Derek führt solche Kajak-Touren: zu versteckten Höhlen, zu Badestränden wie aus dem Reiseprospekt, vorbei an Klippen und Delfinen. Durch Orte, die aussehen wie aus dem Set eines Piratenfilmes.

Dunkel und kühl, wie der Steinbutt das mag

Eine andere Szene wartet im Nordosten der Insel. Wir wandern vorbei am alten Geschützturm Archirondel, in dem sich dereinst die Wehrmacht eingebunkert hatte. Heute kann man hier spartanisch, aber in einer einzigartigen, bizarren Atmosphäre übernachten. Dave Cowburn wartet vor einem der Bunker. Der freundliche ältere Mann mit dem eisgrauen Bart ist Fischer. Früher fuhr er weit hinaus. Heute ist er Herr über den alten Weltkriegsbunker oben in St. Catherine’s. Graue Stahltüren in massiven, meterdicken Betonwänden.

Ein schmaler Weg führt hinein in eine feuchte, kühle Dämmerung. Erneut Eintritt in eine andere Welt. Auch hier spielen hier Ebbe und Flut eine Rolle. In den verwinkelten Gängen summen die Leuchtstoffröhren und Pumpen, es gluckert und sprudelt in den Becken.

Nachdem sich die Fangfahrten in die fernen Gründe nicht mehr lohnten, besann sich Dave auf den Bunker. Da ist es doch so dunkel und so kühl wie der Steinbutt das mag, ein wertvoller Speisefisch, dem draußen nachzustellen immer schwieriger wurde. Sauberes Wasser gibt es im Bunker auch zur Genüge; zweimal am Tag sogar, und immer frisch. Die Anlage hat verborgene Gänge zum offenen Meer und pünktlich strömt die Flut hinein. Dave geht mit einer Schüssel Futterpellets auf einem Steg über ein Becken.

Die Fische lassen das Wasser brodeln, als er das Futter hinein wirft. Schnell hat Dave einen pfannengroßen Steinbutt im Kescher. Eine feste Größe auf den Speisekarten der hiesigen Restaurants, der Edelfisch ist begehrt.

Es ist unheimlich hier draußen in dieser Welt auf Zeit

An der Wand dieses etwas beklemmenden Ortes prangt ein gemaltes Bild seines letzten Kutters. Hinaus aufs Meer muss Dave nicht mehr fahren, sein Fang (mehr als 6500 Fische in allen Altersklassen wachsen hier heran) und sein Leben („…ich kann jetzt jeden Abend zu Hause schlafen“, sagt der Großvater) sind berechenbar geworden.

Das Meer kommt pünktlich in seinen alten Wehrmachtsbunker. Menschliche Schritte verhallen in den endlosen Gängen, die Leuchten an der Decke spenden ein gespenstisches Licht und das auflaufende Wasser gluckert in der Finsternis.

Wir sind zurück am Ostufer, wieder hat sich das Meer zurückgezogen. Es ist Abend geworden und ein nachtblauer Himmel spannt sich sternenklar über die erneut trockengefallene Zwischenwelt, Boote liegen auf der Seite und die Lichtkegel von Autoscheinwerfern huschen gleichsam verirrt durch diese schwarzblaue Dämmerung, in der letzte Tümpel im Mondlicht glitzern. Trudie und Derek haben die Gruppe versammelt und Verhaltensregeln („Immer zusammenbleiben!“) ausgegeben, wir gehen los und die Lichter von La Rocque bleiben zurück.

Dunkelheit verschluckt die Gruppe, Taschenlampenlicht taumelt über Tümpel und Kiesbänke, Schuhwerk knirscht verhalten, und die Kühle und der Geruch nach dem Meer sind intensiver als heute morgen. Es ist unheimlich hier draußen in dieser Welt auf Zeit; zumal wir wissen, dass sie bald wieder versinken wird.

Oliver Abraham

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