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Glasgow: Mächtig viel Stil

Glasgows Niedergang und Auferstehung erinnert in manchem an Berlin. Ein paar Schmutzecken gibt es noch – zum Glück.

Sir Roger musste erschossen werden. Das war vor hundert Jahren, als es unten an der Sauchiehall Street noch einen Zoo gab. Der indische Elefant mit dem außergewöhnlichen Namen hatte besondere Aufgaben. Er diente der Kunst. An bestimmten Tagen wurde er ein paar Meter um die Ecke herum zur Glasgow School of Art geführt, um den Studenten Modell zu stehen. Sir Rogers Seele musste den Weg in den Elefantenhimmel nehmen, als er die Geschlechtsreife erlangte und allzu brünstig auftrat; der Schuss fiel, als er friedlich sein Frühstück verzehrte. Heute kann man das große Tier in der Halle des Kelvingrove Museum sehen.

Der ausgestopfte Bulle könnte das Wappentier von Glasgow sein, so sehr ähneln die Geschichten der armen Kreatur und der schottischen Großstadt am River Clyde einander: früher Ruhm, ein unseliges Ende – und Auferstehung im Namen der Kultur. Glasgow, einst nach London „second city“ des British Empire, erlebte im 20. Jahrhundert einen spektakulären Niedergang. Die einst weltweit größten Werften mussten ebenso schließen wie die Eisenbahnindustrie. Glasgows Fabriken waren zu wenig produktiv, zu teuer geworden. Schottlands größte Stadt wurde zu einem frühen Opfer der Globalisierung, zu einer Industrieleiche.

Ein malerisch-mächtiger Kran, der einst Lokomotiven auf Frachtschiffe hievte, steht als Denkmal vergangener industrieller Majestät am Ufer des Clyde – vis-à-vis dem Scottish Exhibition and Conference Centre, dem „Gürteltier“ von Sir Norman Foster. Im kommenden Jahr soll Zaha Hadids Neubau für das Museum of Transport eingeweiht werden. Der Wandel ist hier überall greifbar. Kunst und Kultur haben den „Turnaround“ geschafft. Heute ist Glasgow eine junge Stadt. Sie zieht das sogenannte kreative Publikum an und erinnert in manchem dabei an Berlin.

Die Wende begann in den Achtzigern. Die Fassaden wurden vom Dreck des Industriezeitalters gereinigt – und viel viktorianische Architektur der Stadtautobahn geopfert. Glasgow sammelte Titel, als wäre Stadtumbau ein Sport. Starke Impulse gingen vom Titel als europäische Kulturhauptstadt 1990 aus – so, wie sich 2010 das Ruhrgebiet einen großen Imageschub durch Kulturprogramme verspricht. In Glasgow gelang es.

Dass industrielle Brache Künstler anzieht, ist überall in der westlichen Welt zu beobachten. Am radikalsten sicherlich am River Clyde. Natürlich reicht das Zauberwort Kultur nicht aus, um den Charakter einer ausgepowerten Stadt umzuwandeln. Kultur, das heißt vor allem auch Tourismus und Konsum. Kultur ist die Chiffre für Serviceunternehmen. Nach London und dem schottischen Rivalen Edinburgh stellt sich Glasgow heute als der am meisten besuchte Ort im Vereinigten Königreich dar. Man kommt hierher zum Shoppen, was ja bekanntlich etwas anderes als Einkaufen ist und auch viel zeitintensiver. Shoppen ist eine Form des Ausgehens, was sich dann über den Tag bis spät in die Nacht hinzieht. Die Innenstadt um die Buchanan Street, zumeist Fußgängerzone, quillt über von Modeläden mit unwahrscheinlichen Rabatten – und Pubs. Vor lauter Prozentzeichen sieht man auf der „Style Mile“ die Auslagen kaum.

Jährlich reisen mehr als 2,8 Millionen Besucher nach Glasgow, bis 2011 sollen sieben neue Designerhotels eröffnet werden. Das Konferenzwesen boomt. Wo die Luft einst so verpestet war, dass der Schiffsbaumagnat William Burrell seine Kunstsammlung in einer Villa zehn Meilen außerhalb der Stadt unterbrachte, um die Kunstwerke vor Schaden zu bewahren, ist heute alles Style und Design. Man ist dann geradezu erleichtert, zwischen Central Station und Flussufer ein paar alte, aufgelassene Gebäude zu entdecken, ein paar Schmutzecken, denn seelenlose zeitgenössische Architektur hat sich hier ebenso mächtig ausgebreitet wie das Elegante und Innovative.

Koch-Popstar Jamie Oliver baut soeben einen Laden für 250 Gäste. Es herrscht fast ein Überangebot an Restaurants mit internationaler Fusion- oder traditionell schottischer Küche (Austern und Lachs!). Um all die Clubs und Venues zu entdecken, die kleinen Second-Hand-Läden an der Byres Road, im Universitätsviertel – dafür reicht ein Wochenende gerade aus.

Die größte Attraktion aber bleibt die Glasgow School of Art in dem von Charles Rennie Mackintosh entworfenen und 1909 eingeweihten Gebäude. Die Atmosphäre ist einzigartig. Man betritt ein Museum, das Museum eines der einflussreichsten Designer der Welt – und spürt sogleich, dass hier gearbeitet wird, dass die Tradition lebt. Eine eigentümliche Mischung aus Erhabenheit und Pragmatismus, Vergangenheitskult und Zukunftsideen. Die Patina erdrückt nicht, sie ist vielmehr eine Schutzschicht für die Studierenden. So fühlt es sich jedenfalls beim Rundgang durch die Mackintosh-Trutzburg an, die von hohen Glasfronten geprägt ist und vom obersten Stockwerk einen der schönsten Blicke auf Glasgow bietet, bis weit ins Land hinaus.

Mackintoshs Objekte markierten seinerzeit die Avantgarde. Die Sammlung von Mackintosh-Möbeln im Erdgeschoss erinnert daran, dass Design und Komfort zwei grundverschiedene Dinge sind. Mancher Mackintosh-Stuhl ist halt fürs Auge gemacht, weniger für Gesäß und Rücken. Aber wer hat sich von diesem Künstler nicht alles inspirieren lassen, bis heute! Und so wie Mackintosh die Welt nach seinen Ideen gestaltete, hat sich auch Glasgow durchgestylt und neu erfunden.

Absolvent der Glasgow School of Art ist Robert Hardy, Bassist von Franz Ferdinand. Die Band mit dem seltsamen österreichischen Namen ist der erfolgreichste Act aus Glasgow seit vielen Jahren – wieder eine typische Geschichte für die Stadt. Die Karriere von Franz Ferdinand nahm ihren Anfang in einer leer stehenden Lagerhalle, die sie gemeinsam mit anderen Indie-Bands und Kunststudenten Anfang der Neunziger besetzten. Übrigens kommt auch The Phantom Band, Gewinner des Soundcheck-Awards 2010 von Tagesspiegel und Radio eins, aus der so alten und so neuen Stadt am River Clyde.

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