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Laufsport: Die Kraft im großen Zeh

Einfach nur joggen ist manchen Menschen nicht genug. Mehr Tempo und Kondition erhoffen sie sich durch ein Lauftraining. Zum Beispiel in der Toskana.

Toskana, ein Hotel am Meer. Galadinner. Zwei lange Tafeln, ein mehrgängiges Menü, Wasserflaschen. Kein Wein. Man könnte welchen bestellen. Aber alle trinken Wasser. Und prosten Kurt Stenzel zu, auf eine erfolgreiche Woche. Das ist keine Entziehungskur. Das ist ein Laufseminar. Kurt Stenzel, zwölffacher deutscher Langstreckenmeister und Physiotherapeut, bringt gemeinsam mit drei Co-Trainern Freizeitsportler auf Vordermann. Den weitläufigen Pinienwald von Marina di Bibbona kennt er, hier hat er in seiner aktiven Zeit als Läufer trainiert.

Die knapp zwanzig Teilnehmer des Running- und Nordic-Walking-Camps sind zwischen 15 und 70 Jahre alt, und sie erzählen am ersten Abend von sich. Regina „bereitet sich gerade auf Mainz“ vor. Marathon. Regina ist 48 Jahre alt, drahtig und hat sieben Kinder. Ein hagerer Mann, der Älteste der Gruppe, hatte „Thrombosen und Lungenembolie“, er wolle sehen, was geht. „Ich hab da noch so einiges vor im Leben.“ Kurt Stenzel zieht die Augenbrauen hoch. Michael trainiert „für Hamburg“, Petra für irgendeinen Halbmarathon. Und ich hielt mich für sportlich, mit drei Mal wöchentlich eine halbe Stunde laufen im Park. Aber wie hart diese Woche auch werden mag, ich werde nicht in die Walkinggruppe abrutschen. Nichts gegen Walking, jeder, wie er mag. Aber ich nicht. Bitte nicht.

Läufergeschichten. Im Winter sei das Laufen hart, findet eine Passauerin. Es sei so schön, wenn irgendwann die Hände warm werden. Eine Tischnachbarin sagt: „Genau! Ich hab immer schon Tränen in den Augen und denke mir, gleich wird es besser.“ Wo bin ich da hineingeraten?

Marko entwirrt seine Beine unterm Tisch, holt sich einen Nachschlag. Der 18-jährige Schlaks hat seinen Trainingsplan mit, er ist Karosseriebauer und schüchtern. Ausnahmetalent, murmeln die Trainer. Oder kennst du noch jemanden in Hessen, der ’nen 32er läuft? Kopfschütteln. Dem Laien wird erklärt: Er läuft einen Zehner unter 33. Danke, alles klar. Regina, die siebenfache Mutter, sagt, das Laufen sei ihre Zeit am Tag. „Im Wald habe ich meine Ruhe, keiner will etwas von mir.“ Hundert Kilometer, jede Woche. Kinder in die Schule schicken, und los geht’s.

Die Läufer hier liefern sich keine Materialschlacht. Ein Paar Schuhe, vielleicht eine teure Pulsuhr, viel Staat ist nicht zu machen. Am Nachbartisch sitzen Radfahrer, die es vor dem Abendessen nicht mehr unter die Dusche schaffen, sie stehen in ihren klebrigen Klamotten und den Klick-Schuhen ums Büfett, besprechen Grammwerte von Gangschaltungen. Während der Bauch über die enge Radlerhose quillt.

Früher Morgen vor dem Hotel. Drei Gruppen formieren sich, rennen los in den Pinienwald mit dem federnden Boden. Eine schnelle Gruppe, eine sehr schnelle Gruppe und meine Gruppe. Knapp vor den Walkerinnen.

Gisela, eine knackige Endfünfzigerin mit langen Beinen, hat ihren Namen hinten auf der Hose stehen. „Damit die Männer wissen, wer sie überholt.“ Einer aus ihrem Verein hat mal zu ihr gesagt, „und wenn ich kotze, an mir kommst du nicht vorbei“. Sie und ihr Mann schenken sich zu jedem runden Geburtstag „einen Lauf, New York, Boston oder so“.

Ev Schilberz, Firmengründer von Protrainingtours, trotzt dem Wellness- Trend mit einem griffigen Argument: Wellness sei Balsam für den Augenblick, Fitness hingegen fülle die Räume zwischen diesen Augenblicken. „Fitness fühlt man jeden Tag – beim Weg zum Bäcker genauso wie beim Treppensteigen.“ Er veranstaltet Kurse im Pinienwald der Toskana und am Strand Andalusiens. Zwei Drittel der Teilnehmer sind Frauen, denn „Männer denken, sie könnten schon laufen“.

So laufen wir nun jeden Morgen eine Stunde durch den Pinienwald, vorbei an lila Teppichen voll wilder Alpenveilchen. Überall kreuzen Läufer auf ausgemessenen Wegen zwischen Bibbona und Cecina, man könnte das Meer rauschen hören. Doch im Kopf beben die Schritte nach. „Entspannt laufen“, sagt Kurt Stenzel. Man solle dabei plaudern können. Nachmittags rennen wir schneller und länger, dazwischen gibt es Aqua-Jogging. Bei Entspannungsgymnastik auf Gummimatten am Hotelpool zeigt uns Kurt Stenzel, wie man den Schollenmuskel (am Unterschenkel) locker macht. Es folgen Ernährungstipps, Dehnübungen. „Rehe dehnen auch nicht“, habe einer mal gesagt. Kurt Stenzel schüttelt den Kopf. Was wisse man schon, was die da im Wald machen?

Stenzel widmet sich mit der Geduld des Langstreckenläufers den absonderlichsten Fragen. Ein Bayer: „Soi I denn scho an Kilometer zehn wos essen, oder erst ab de 20? Und wos is mim Trinka? Do muss I fei biesln. Und wia fescht soi I die Schuah zuabinden?“ Stenzel zeigt auf der Matte am Pool „Kurts Läuferrolle“, eine stramme Ganzkörper-Spannungs-Pose, und erzählt Anekdoten aus seinem Läuferleben. Stenzel wird nicht müde, zu vermitteln, wie großartig er Laufen findet. Er ist in der Sache ernst und gibt den Spaßvogel. Das hält alle bei Laune und lässt die Anstrengung weniger spüren.

Mal wird mit dem Extra-vergine-Cavallino-Olivenöl vom Büfett die Wade massiert, mal die Zeit mit „Fahrtspielen“ verbracht, einer Trainingsform im ruhigen bis mittleren Dauerlauf, bei dem man zwischendurch kurze Strecken in höherem Tempo absolviert. Auch Belastungsübungen verschiedener Art vertreiben die Zeit. Durch den Wald schallen die Tipps der Trainer: Schultern locker, Hände nicht so in Pfötchenstellung, Knie hoch! Mal sollen wir beim Lauf-ABC hopsen und springen. Für die Koordination und den „Abdruck“. Letzteres ist gewissermaßen die Sprungfeder im großen Zeh, die den Läufer nach vorne katapultiert. Doch Ungeübte benutzen das Fußglied bloß als ausgeleierten Stoßdämpfer. Bei Marko, dem Talent, scheint der Fuß den Boden nicht zu mögen, sofort nach der Berührung schnellt die Sohle wieder in die Luft, fliegt weit nach vorne. Marko sprang ohne Training 6,45 Meter weit. Mach Weitsprung, sagte sein Trainer. Der schüchterne Marko sagte Nein. Er will laufen.

Unser letzter Tag: der lange Lauf. Regina, Gisela und Marko laufen vier Stunden durchs schräge Licht des Pinienwaldes, 36 Kilometer weit. Mit zwei Frauen etabliere ich die Zwei-Stunden-Gruppe. Wir werden exakt zwei Stunden laufen, Rekord. Für mich. Ich habe hier jeden Tag meine persönlichen Rekorde gebrochen. Wir schaffen in der Zeit etwa 18 Kilometer. Fast ein Halbmarathon! Wir sind begeistert. Darauf hätten wir gern ein Glas Bolgheri Sassicaia getrunken, abends beim Dinner. Hätten …

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