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Reise: Nackt war nur das Volk

Der „Raum der Erinnerung“ im Selliner Cliff-Hotel ist so trist wie das verordnete Leben. Damals in der DDR.

Der „Raum der Erinnerung“ im Selliner Cliff-Hotel ist so trist wie das verordnete Leben. Damals in der DDR. Vergilbter Kunstdruck und graue Tüllgardinen zieren das einstige Erholungsheim des Zentralkomitees der SED. Eine Puppe trägt Trenchcoat und Honecker-Mütze. „Honecker war nur ein Mal hier, der Krenz kam öfter“, erinnert sich Elke Gloser, die das 1978 eröffnete Hotel seit mehr als 20 Jahren kennt. Heute ist sie „Mädchen für alles“ im Hause, sagt sie und rückt das Porzellan in der ehemaligen Mitarbeiterkantine zurecht. Marke Echt Weimar Kobalt, Serie Harmonie, auf dem auch „Ehrichs Brathering“ (oft) serviert wurde. Roland Ehrichs Brathering. Der 52-jährige Chefkoch sorgte schon vor gut drei Jahrzehnten fürs leibliche Wohl der Partei. „Egon Krenz war eigentlich ein ganz patenter Kerl“, meint Ehrich in jenem Ton sachlicher Leichtigkeit, wie wir ihn auf der Reise über den Erlebnispfad „Vorwärts und dabei nicht vergessen – Ferien, Fische und FKK“, ein Angebot der hiesigen Tourismuszentrale zum Mauerfalljubiläumsjahr, noch oft hören werden. Ist schließlich alles schon so lange her.

„Ehrichs Brathering“ steht immer noch auf der Speisekarte. Auch wenn der Koch zwischenzeitlich sein Repertoire auf kulinarischer Weltreise erweitert und der neue Besitzer für rund vier Millionen Euro die 246 Zimmer im sandsteinverkleideten Plattenbau hoch über dem Selliner Cliff im Südosten der Insel saniert hat, zeigt es noch immer selbstbewusst DDR-Schick, mit allem Komfort.

In den Fluren verbreiten bizarre Leuchten Retrocharme. Die Rundsäule im Schwimmbad stammt vom 2007 verstorbenen Binzer Architekten Ulrich Müther, das stählerne Windspiel im Garten vom einem bekannten DDR-Künstler. „Wie hieß der doch gleich?“ Hoteldirektor Peter Schwarz hat längst noch nicht alle Hinterlassenschaften aufgearbeitet. Wie ein kleiner Junge freut er sich über die alten Speisepläne, die noch im Kellerlabyrinth lagern, über DDR-Hotelführer, Pressglas und Plastikeierbecher – alles Material für den „Raum der Erinnerung“. Schwarz will das Hotel in den grünen Hängen der Granitz, das vor gut zwei Jahren Insolvenz anmelden musste, mit dem Image neuer Offenheit wieder populär machen, auch deshalb steht das Cliff Hotel am Beginn dieser Entdeckungstour.

„Früher hat man sich hier mit einem Zaun gegen das Volk abgeschirmt – heute nur noch gegen Wildschweine“, betont Schwarz und fährt mit dem einst staatstragenden Fahrstuhl direkt hinunter zum Strand. Nackte und Bedeckte liegen friedlich nebeneinander im hellen Sand. Das gab es früher nicht, nicht an dieser Stelle. Zumindest hat Elke Gloser nie einen der Parteigenossen nackt am Strand gesehen.

Dort aber, wo das Volk schon damals hüllenlos in der Sonne döste, wacht seit diesem Sommer der Strandvogt über Zucht und Ordnung: Zu beiden Seiten der Seebrücke von Binz stehen die Strandkörbe in Viererreihe. Nackte werden an den FKK-Strand verwiesen, und Nikotinsüchtige bald an den angekündigten Raucherstrand. „Zu DDR-Zeiten hat sich bei uns jeder ausgezogen, wo er wollte“, empfängt uns Dieter Reinhardt, der erste Nachwendebürgermeister von Binz und noch immer für eine freie Wählergemeinschaft in der Gemeindepolitik aktiv. Nun gebe es eine neue Bäderordnung, die vor allem die Bedürfnisse der älteren Urlauber bediene. „Die bringen schließlich das Geld“, sagt Reinhardt, der früher im Rang eines Oberstleutnants an der Militärhochschule „Otto Winzer“ in Prora lehrte.

Die einstige FDGB-Hochburg Binz ist wieder ein schmucker und gut florierender Ferienort mit nostalgisch restaurierter Bädereleganz. Vor dem Kurhaus spielt die Kurkapelle. Den westlichen Teil der mit Linden bepflanzten Strandpromenade säumen aus Plattenbauten ehemaliger Ferienheime aufpolierte Hotels. Reinhardt kennt jedes Haus. Auch die alten, deren Besitzer 1953 im Namen der „Aktion Rose“ enteignet wurden. Reinhards gefällige Plaudereien etwa über Amanda Wesch, die ihre Pension mit den schönen Jugendstilfenstern erst als 90-Jährige zurückbekam und dann auf dem Balkon mit Seeblick ihre Memoiren schrieb, lassen kaum ahnen, wie rigide der Staat sich einst Platz für den gelenkten Urlauberstrom schuf.

Nach dem „Küstenbereinigungsprogramm“ wurde Binz unter Ulbricht zum „Seebad der Werktätigen“. Und aus dem Reunionssaal des Kurhauses hielt man die Urlauber per Lautsprecher auch am Strand über die Erfolge der sozialistischen Produktion auf dem Laufenden.

Mit strammem Blick zum Meer reihen sich kilometerlang die düsteren Gebäude der von den Nazis konzipierten KdF-Ferienanlage an der Proraer Wiek. Das kriegsbedingt unvollendet gebliebene Projekt wurde von der Nationalen Volksarmee weitergebaut. Prora wurde militärische Drillanlage, Schulungsstätte für die Weltrevolution, Ferienlager, Militärerholungsheim und -hochschule. Auch hier kennt sich Reinhardt aus, natürlich. Sein Tipp: „Wer mehr über die DDR-Vergangenheit wissen will, sollte das 1994 in Block 3 eröffnete Museum besuchen.“

„Neutral, informativ, historisch“, preist sich das Privatmuseum in dem Projekt Kultur-Kunst-Statt Prora. So der Anspruch. Doch mag manchen die Anpreisung der Erinnerungen des ehemaligen Befehlshabers der DDR-Landstreitkräfte Horst Stechbarth – dessen Buch „Soldat im Osten“ für 21,80 Euro an der Kasse erhältlich ist – stutzig machen. Von den mehr als 400 sogenannten Spatensoldaten in Prora, die den Dienst an der Waffe verweigerten, also Nestbeschmutzer in den Augen der Militärs waren, erfährt man nichts.

Reiseführer Gerd Subklew, einst Küster der Marienkirche in Bergen, erinnert jedoch an die jungen Männer mit den kleinen Spaten auf den Schulterstücken. „Sonntags kamen sie in die Gemeinde, für ein bisschen ziviles Leben im geschützten Raum, in dem sie nicht einmal wagten, ihre Uniformen abzulegen.“ Aber hier konnten sie über die Repressalien in der Kaserne sprechen, die oft unerträglich waren.

„Ohne Bausoldaten wäre der Hafen nicht entstanden“, erklärt dann auch Ingenieur Jürgen Heyer beim nächsten Abstecher zum Fährhafen Mukran. Der Hafen war 1986 für die Linie nach Klaipeda zur Umschiffung des durch die Solidarnosc- Bewegung unzuverlässig gewordenen Bündnispartners Polen eröffnet worden. Acht Jahre später fuhr ein Großteil der in Deutschland stationierten sowjetischen Truppen auf diesem Wege nach Hause. Inzwischen hat sich der Fähr- zu einem Multifunktionshafen entwickelt. Fähren aus Bornholm und Trelleborg, doch auch immer mehr Kreuzfahrtschiffe steuern die Mole an. Heute liegen Stapel langer Rohre auf dem Industriegelände des Hafens, für den das Ostsee-Pipeline-Projekt ein Glücksfall ist.

Und weiter geht es im Dienste der Aufklärung über die Schaabe, eine neun Kilometer lange Nehrung, mit der sich die beiden Halbinseln Jasmund und Wittow aneinanderklammern. Am Nachmittag erwartet uns der „König von Arkona“, wie mancher Ernst Heinemann nennt. Der 57-Jährige wurde gerade erneut zum Bürgermeister von Putgarten, Rügens nördlichster Gemeinde, gewählt. Seit 1993 nimmt sich der frühere Politoffizier der 6. DDR-Schnellbootflotille der touristischen Entwicklung der Region an. Der alte Stratege hat dabei schnell kapiert: Siegen heißt jetzt, von den Bayern lernen, zum Beispiel, wie man als Grenzregion EU-Fördertöpfe nutzt. Mit Dankbarkeit und Toleranz eines pragmatischen Atheisten ließ er denn auch ein bayerisches Wegekreuz am Hochufer errichten.

Das Kap war schon früh strategisches Sondergebiet, schon unter Heinrich dem Löwen, der 1168 gemeinsam mit Dänenkönig Waldemar die Tempelburg der Ranen stürmte. In der Neuzeit war es von der 6. Grenzbrigade Küste verriegeltes Land. Der Bus hoppelt über Kopfsteinpflaster, dafür hat der wendige Bürgermeister eine alte Dorfstraße aus Portugal importiert. Dicht am Rand des Kliffs ließ er, für touristische Zwecke, die jüngste militärische Vergangenheit freibaggern: Mehr als vier Meter hohe, bis zu 30 Meter lange Bunker. Der ältere stammt noch aus Wehrmachtszeiten, im jüngeren von 1986 sollte die Führung der DDR-Marine die ersten zehn Tage nach dem Atomschlag überleben. Asbest raus, Relikte der Militärgeschichte rein.

Heinemann führt durch enge Gänge vorbei an Schiffsmodellen, Uniformen (auch an der eigenen), Zeitschriften und Schaltanlagen. Die Fotos vom Alltag der Marinesoldaten hat der ehemalige Offizier selbst geschossen. 1986 bekam er dafür bei den Arbeiterfestspielen eine Goldmedaille. Die blitzblauen Augen Heinemanns verdunkeln sich, als ihm ein junger Mann mangelnde Reflektion und Verherrlichung in der Schau vorwirft.

Heinemann verteidigt sich: Immerhin habe er eine militärische Anlage ziviler Nutzung zugeführt. Auch die Wendezeit in der Volksmarine soll Thema der Ausstellung werden – und schon schwenkt er über zu den Verdiensten der Offiziere und Politorgane beim geordneten Übergang. „Wir wollen behutsam mit der Geschichte umgehen, waren wir doch selber ein Teil der Geschichte.“

Dann schiebt sich Heinemann die Schirmmütze in den Nacken und geht zum Angriff über, liest aus der rot eingebundenen Verfassung der DDR, Artikel 7, nach der die Armee das Land nach außen hin zu schützen hatte. Kein Wort über die DDR-Bürger, die bei ihren Fluchtversuchen über die Ostsee ums Leben kamen.

Wer am nächsten Morgen auf eigene Faust noch mehr DDR-Geschichte erfahren will, begibt sich auf die Insel Vilm. Ein Mal am Tag nimmt ein Schiff im Hafen Lauterbach eine kleine Gruppe von Neugierigen über den Rügischen Bodden mit auf das Eiland. Nach der Wende war die Öffnung der „Ministerinsel“ für die Allgemeinheit politische Notwendigkeit. Im Haus Nummer eins wohnte Ulbricht, im Haus Nummer zwei Margot Honecker. „Hilde Benjamin, begeisterte Eisbaderin, war sogar im Winter da“, erzählt Inselführer Burkhard Lenz. Die Justizministerin sei nicht ohne Einfluss darauf gewesen, dass aus der damals viel besuchten Insel wieder ein geschütztes Gebiet wurde.

Der Weg zurück nach Sellin führt über Bergen. An der mittelalterlichen Marienkirche kommen die Worte des Reiseleiters Subklew in den Sinn sowie die Friedensandachten von 1989, die Demonstrationen, die von dieser Kirche ausgingen. Die Abdrücke, die die regennasse Kleidung der Betenden damals an einem Herbsttag auf den Kirchenbänken hinterließen, seien heute noch sichtbar, sagt Subklew. Ja, auch die Bergener Marienkirche ist ein Raum der Erinnerung.

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