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Zackige Querung. Beim tschechischen Decin führt der Weg über die "kleine Schwester" der Prager Karlsbrücke.

© Fitzthum

Radabenteuer: Karriere am Fluss

Der Elberadweg gehört zu den beliebtesten Pedalstrecken in Deutschland. Tschechien will teilhaben am Boom – und lockt auch ans Ufer des Stroms.

Wie Forschungsreisende des 18. Jahrhunderts sind wir ausgezogen, um ein Rätsel zu lösen, das uns seit langem beschäftigt. Wir wollen dem beispiellosen Erfolg des Elberadwegs auf die Spur kommen: Warum führt er die Top Ten der deutschen Radfernwege seit Jahren mit großem Abstand an? Warum braucht er weder Werbekampagnen noch Gütesiegel? Warum ebbt der Zustrom nicht wieder ab, obwohl ihm in jeder Ecke der Republik täglich neue Konkurrenz erwächst?

Finden wir’s heraus. Das Abenteuer beginnt mit dem Eurocity, der mehrmals am Tag von Berlin nach Prag fährt. Wir bleiben im Zug sitzen und landen im tschechischen Usti Nad Labem. Von den dramatischen Gebirgszügen der Böhmischen Schweiz ist bald nichts mehr zu sehen, das Elbtal verwandelt sich in eine weite Niederung, aus der nur ein paar bewaldete Hügel aufragen. Das ehemalige Aussig hat ein schönes Straßencafé, vermag ansonsten aber wenig Begeisterung zu wecken. Die Innenstadt ist bei den Bombardements des Zweiten Weltkriegs fast vollständig zerstört worden, der Wiederaufbau erfolgte lieblos. Von den gewaltigen Ausmaßen, die die Wirtschaftsmetropole des Habsburgerreichs einmal hatte, zeugt nur noch der hohe Grad der Zersiedelung.

Auf dem mit kleinen Metallschildchen markierten Radweg sind vor allem Inlineskater unterwegs. Radler sind hingegen kaum zu sehen, zumindest keine ausländischen. Offenbar befürchten unsere Landsleute, in Tschechien auf vielbefahrenen Autostraßen radeln zu müssen.

Tatsächlich ist diese Sorge nicht ganz unberechtigt: In den Ländern des ehemaligen Ostblocks zählt das Radfahren noch heute zu den Risikosportarten. Allzu oft muss man sich enge und holprige Fahrbahnen mit PKWs und Schwerlastern teilen. An der böhmischen ‚Labe' hat sich in den letzten Jahren jedoch einiges getan. Den Verantwortlichen ist nicht verborgen geblieben, welche Wirtschaftskraft der Elberadweg beim deutschen Nachbarn entfesselt hat – 90 Millionen Euro geben die rund 150 000 Reiseradler dort jedes Jahr aus. Zudem zeigte und zeigt sich die EU beim Ausbau von länderübergreifenden Radrouten äußerst spendabel. Kein Wunder also, dass wir in Decin auf eine neue Trasse einschwenken, die nicht professioneller ausgebaut sein könnte.

Die Kulisse wird nun immer märchenhafter, beiderseits des Flusses ragen wilde Felsformationen aus dem Nadelwald. Besonders bizarr ist die Szenerie direkt vor der Grenze. Am gegenüberliegenden Ufer schmiegen sich schöne Fachwerkhäuser aus der Belle Epoque an die jäh aufsteigenden Hänge. Hrensko begrüßt uns vordergründig mit einem romantischen Ortsbild – und quirligen Vietnamesenmärkten in zweiter und dritter Reihe.

Nahtlos geht die Böhmische in die Sächsische Schweiz über. Dass man deutschen Boden erreicht hat, lässt sich nur am blau-weißen Emblem erkennen, mit dem der Elberadweg von nun an bestens markiert ist. Bad Schandau rechts liegen lassend, folgt er dem stillen Südufer durch Wiesen und Weiden, in dem Kühe und Schafe den farblichen Kontrapunkt bilden. Noch eindrücklicher wird das Naturerlebnis zwischen Königstein und dem Kurort Rathen. Die Elbe macht hier eine markante Schleife nach Norden – das Tal gehört allein den Fußgängern, Paddlern und Radfahrern.

Am Fähranleger von Rathen ist es mit dem Hochgefühl aber erst mal vorbei: Ausflugstouristen und Halbschuhwanderer stehen in doppelter Reihe an, denn drüben strecken sich die Felsendome der Bastei in den Himmel. Irgendwie erinnert das Fährschiff an ein überfülltes Flüchtlingsboot. Wie so oft haben die Massen aber recht: Die Sandsteingebilde der Sächsischen Schweiz gehören ohne Zweifel zu den bezauberndsten Naturdenkmälern Deutschlands. Langstreckenradler, die sich dafür keine Zeit nehmen, machen einen schweren Fehler.

Dass sich der Elberadweg mit den spektakulären Landschaften an seinem Oberlauf ein dramaturgisches Problem einhandelt, liegt auf der Hand. Was soll auf den verbleibenden 800 Kilometern noch kommen nach derart imposanten Szenerien? Ein Blick auf die Übersichtskarte macht deutlich, dass uns zwischen Dresden und Cuxhaven nur noch plattes Land erwartet.

Im Moment kann von Reizarmut allerdings noch keine Rede sein. Denn es folgen die bezaubernde Altstadt von Pirna, die Dresdner Elbauen mit ihren exponierten Villen und Schlösschen und schließlich Dresden selbst – mit einer unvergesslichen Altstadtsilhouette.

Nach dem einstigen Elbflorenz wird es dann tatsächlich mühsam. Irgendwie schmerzt es, die landschaftlichen Höhepunkte der Reise bereits hinter sich zu wissen: Zwischen den architektonischen Perlen von Meißen und Torgau ist jedenfalls ödes Dahingleiten angesagt. Stundenlang geht es durch ausgeräumte LPG-Landschaften, meistens am Damm entlang, ohne Blick auf den Fluss. Ein erstes Stimmungstief bahnt sich an.

Ein paar Stunden später wissen wir, dass die aufkommende Missstimmung nur ein vorübergehendes Adaptionsproblem war. Unter Ermangelung betörend schöner Landschaftsbilder ändert sich die Wahrnehmungsart, und das Gemüt braucht etwas Zeit, sich darauf einzustellen. Die Augen haben den konkreten Gegenstand verloren, auf den sie sich fokussieren könnten, die Bilder verwischen, die Umgebung wird zu einem Landschaftsfilm. Nicht einmal im Traum würden wir daran denken, unsere Handys wieder anzuschalten. Ein gutes Zeichen!

Ganz anders auf den letzten Kilometern vor der Lutherstadt Wittenberg. Nun geht es auf schmalen Wegen aus Verbundsteinen dahin, die einem eine gehörige Portion Aufmerksamkeit abverlangen – auf den Gegenverkehr ebenso wie auf die Natur, die nun fast bis unter die Pedale reicht. Erst jetzt wird einem bewusst, auf welch hohe Fahrgeschwindigkeit man sich im Laufe der letzten Tage eingependelt hatte.

Noch intensiver wird das Fahrerlebnis im Biosphärenreservat Wörlitz-Dessau. Der glatte Untergrund ist einem schmalen Naturweg gewichen, der als Allee der Deichkrone folgt. Plötzlich ist da, was wir während der Tage zuvor gar nicht vermisst hatten: Jenes Eingebundensein in die Natur, das sich auf künstlichen Oberflächen nicht einstellen will. Endlich rauscht der Feinsplitt unter den Reifen, endlich fegen einem die Äste dicht an den Ohren vorbei.

Natürlich stellen sich auch auf derart reizvollen Passagen Ermüdungseffekte ein. Es ist nun mal anstrengender, achtsam zu fahren, nach Baumwurzeln Ausschau zu halten oder nach Pfützen, die umsteuert werden müssen. Zudem ist der Rollwiderstand größer – man schafft nicht mehr die Distanzen, die man auf glattem Asphalt bewältigt hatte. Aber was soll daran schlimm sein? Die meisten anderen Elberadler sehen das wohl genauso. Laut Statistik fahren sie im Durchschnitt nur sechzig Kilometer am Tag. So halten sich Anstrengung und Entspannung die Waage. Und es bleibt genug Zeit für die wirklich wichtigen Dinge – für die Begegnung mit den Dörfern und Städten, die Gastfreundschaft des Ostens und die bizarren Stillleben entvölkerter Regionen.

Und das Rätsel? Die Gespräche mit anderen Elberadlern ergaben kein eindeutiges Meinungsbild. Mancher Pedaltreter lobte die Schönheit der Städte, die es freilich auch an anderen Flussradwegen gibt. Ein anderer die Ruhe, ein Dritter die perfekte Beschilderung und den guten Ausbaustand. Uns freilich scheinen zwei andere Faktoren wichtiger: Zum einen ist das Elbtal vom Wasserlauf selbst geprägt, und nicht wie überall sonst an deutschen Strömen von den begleitenden modernen Verkehrsadern. Zum anderen hatte die DDR-Regierung der Binnenschifffahrt keine große Aufmerksamkeit gewidmet. Man ließ die Elbe mehr oder weniger ungehindert fließen. Wenn sie nach längeren Trockenperioden nicht genug Wasser hatte, blieb sie bis zum nächsten Regen einfach für die Schifffahrt gesperrt. Nur in wenigen Abschnitten wurde der wichtigste Strom Ostdeutschlands künstlich vertieft und durch Uferaufschüttungen und -befestigungen zum schnurgeraden Kanal ausgebaut. So wirkt der Fluss noch als faszinierend eigenständiger Landschaftsteil und nicht als graubraune Transportbahn für Güter und Abwässer. Verglichen mit ausgebaggerten Wasserstraßen wie dem Main, dem Rhein und der Weser, eine echte Sensation.

In Magdeburg hatten wir Uwe Peters getroffen, den langjährigen Regionalkoordinator des Elberadwegs. Auch er konnte keine eindeutige Antwort auf unsere Frage geben. „Unser Erfolg hat ganz verschiedene Ursachen, die nicht wirklich voneinander zu trennen sind.“ Die Naturnähe eines nahezu unregulierten Flusses sei jedenfalls nur ein Faktor. Ebenso wichtig seien die Geschichtsträchtigkeit der Region, der große Abwechslungsreichtum, die freundlichen Anwohner und nicht zuletzt das radlergerechte Informationsmaterial. „Es ist dieses positive Gesamtbild, das 95 Prozent der Radler diese Tour weiterempfehlen lässt.“

Inzwischen haben wir unsere Reisezeit aufgebraucht – wir waren viel langsamer unterwegs als wir uns zuvor ausgerechnet hatten. Das miese Wetter hatte uns zwei Tage gekostet, etwa ebenso viel haben wir durch Trödeln verloren – durch Stadtbesichtigungen, Besteigungen von Aussichtsfelsen sowie durch exzessive Pausen auf mittelalterlichen Marktplätzen und in netten Promenadencafés. Fast vierhundert Kilometer Elberadweg sind noch übrig, genug für eine weitere Woche im Sattel. Die nehmen wir dann im kommenden Jahr in Angriff.

Gerhard Fitzthum

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