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Alles Gute hat sein Ende. Nach 5359 Kilometern Atlantikfahrt holt die Crew die Segel ein.

© Reinhart Bünger

Reisetagebuch Tag 16: Landgang statt Seegang

„Bridgetown, here we come.“ Unser letzter Reisetag auf See ist angebrochen, der vierzehnte. Wir möchten gar nicht ankommen. Doch am frühen Nachmittag taucht Barbados am Horizont auf.

„Die See sieht heute aus wie Quecksilber“, sagt eine mitreisende Schweizerin, „nur die Oberflächenspannung ist nicht ganz identisch.“ Das kann man wohl sagen: In der Nacht soll das Schiff, das unter Motor fuhr, schwer gerollt haben. Wieder sind einige TV-Flatscreens von Passagieren aus den Sekretären gefallen. Seit dem frühen Morgen kümmert sich ein Begrüßungskommando um uns: Zwei Möwen umkreisen unseren Rahsegler – sicheres Indiz, dass Land bald in Sicht ist. 70 Seemeilen sind wir noch entfernt und froh, dass Barbados noch nicht zu sehen ist.

28 Grad Celsius Außentemperatur, Nordostwindstärke 6 – bestes Segelwetter. Ausgerechnet jetzt, wo alles so schön läuft, geht die Reise zu Ende! Ein Passagier hat sich von unserer Beauty-Queen Urs eine Fußzonenreflexmassage angedeihen lassen und freut sich über sein wieder funktionierendes linkes Bein. Bei Helmuth schlagen die Antibiotika an, und er hält seine Zahnschmerzen aus. Norbert freut sich über die Windstärke sechs.

Nur rund ein Drittel der Transatlantikfahrer bleibt in Barbados an Bord und hängt noch eine Woche dran. Die meisten Passagiere lassen sich nach Deutschland zurückfliegen. Für sie ist der heutige Tag ein Abschluss, für viele auch der emotionale Abschluss des Jahres. „Den Stress mit Besichtigungen an Land, den tue ich mir nach dieser Fahrt nicht an.“ So sprechen viele.

Zeit für Muße

Das Publikum, das mit „Sea Cloud“ oder „Sea Cloud II“ auf eine Crossing geht, ist speziell: Es sind Gleichgesinnte an Bord. Mehr oder weniger. Sie wollen segeln. Und sie suchen die Ruhe in der Weite des Atlantiks. Gleichwohl: Wer wollte, fand an Bord auch viel Abwechslung. Vorträge, Konzerte, Themenabende – das gibt es nicht nur auf großen Kreuzfahrtdampfern, sondern auch auf der „Sea Cloud II“, allerdings im Maßstab entsprechend verkleinert.

Wer auf diesem Schiff allerdings auf Animateure wartet, die ihn von morgens bis abends bespaßen, ist fehl an Deck. Was macht man denn da nur so den ganzen Tag auf einem Segelschiff, das 14 Tage lang ohne Landgang mit Passagieren unterwegs ist, die man nicht kennt und von denen man einige vielleicht auch gar nicht kennen möchte? Diese Frage wird Passagieren oft gestellt, die über zwei Wochen auf dem Atlantik mit sich unterwegs sind. Die Antwort ist einfach: Jeder macht, wie er denkt, und doch bildet sich in nur wenigen Tagen eine funktionierende Gemeinschaft, die sehr viel miteinander zu besprechen hat.

Bei einer überschaubaren Zahl von einigen Dutzend Passagieren redet schnell jeder mit jedem. Und da wir ja unserem häuslichen Umfeld und unseren Bürogemeinschaften davon gesegelt sind, können wir an anderen Stellen wieder andocken. Das bringt ziemlich viel Spaß, sich mit neuen Menschen, deren Ansichten, Einstellungen und Berufen zu beschäftigen, ihren privaten Wünschen und Erlebnissen. Weil das alles ohne Zeitdruck, ohne berufliche oder persönliche Verpflichtungen vonstatten geht. Karten, Schach oder Backgammon spielen – das geht natürlich auch. Und dann sind da die wunderbaren Mahlzeiten und Abende im Freien. Die Sterne, die See, der Mond – so banal es klingt, einfach nur Schauen kann sehr schön sein. Es muss nicht immer gesprochen werden, um etwas zu sagen oder zu hören. Kurz: An Bord lernt ein jeder – es sei denn, er will es nicht lernen – dass es nicht immer und überall wichtig ist, etwas zu tun.

Zum Abschied noch ein Lied

Immer schön der Reihe nach! Oben in den Rahen läuft alles wie am Schnürchen.
Immer schön der Reihe nach! Oben in den Rahen läuft alles wie am Schnürchen.

© Reinhart Bünger

Davon abgesehen, gibt es diese Nussschale, die über den Atlantik schwimmt. Sie schwimmt von alleine, aber sie bewegt sich nicht von alleine: Es ist ziemlich spannend zu beobachten, wie eine Crew auf einem Großsegler funktioniert. Eine Crew, die einen Plan hat: Wir segeln mit Passagieren über den Atlantik. Seeleute auf Rahseglern müssen initiativ sein, können schnell Entscheidungen treffen und bringen gute soziale Eigenschaften mit, die eine Gemeinschaft braucht. Nicht uninteressant, einzelne Charaktere und Persönlichkeiten unter diesen Aspekten einmal zu beobachten. Kurzum, um es mit Norbert aus Hannover zu sagen: „Ich habe hier an Bord eigentlich überhaupt keine Zeit.“

Nun kommt gleich der Lotse an Bord, um uns sicher in den Hafen von Bridgetown zu steuern. Doch soll noch der Kapitän der „Sea Cloud II“ zu Wort kommen, der dem Tag vor dem Abendessen eine überraschende Wendung gegeben hat. Das kleine Statement wurde kurzfristig ins Tagesprogramm genommen. Natürlich ist jede Transatlantikfahrt ein einzigartiges Erlebnis. Doch mit Blick auf den Rahsegler „Sea Cloud II“ war diese Überfahrt auch vom seemännischen Standpunkt aus etwas ganz Besonderes.

Mit Wind in den Segeln

Die berechnete Gesamtstrecke von Las Palmas nach Barbados betrug 2889 Seemeilen – das entspricht etwas 5359 Kilometern. Doch gefahren wurde mehr, denn ein Segelschiff kann nicht geradeaus fahren. Es wurden 2966 Seemeilen zurückgelegt. Das allein sind nur Zahlen. Doch jetzt kommt's: „55 Prozent der gesamten Distanz wurden unter Segeln zurückgelegt“, so Kapitän Evgeny Nermerzhitskiy; „nur 16 Prozent der Seemeilen wurden ausschließlich unter Motor gefahren.“

Ein Teil der Reise wurde mit Segeln unter Zuhilfenahme eines Motors bewältigt. Von der gesamten Reisezeit war die „Sea Cloud II“ zu 67 Prozent unter Segeln. Hinzu kommt die Nonstop-Segelleistung: In 151 Stunden wurden 1041 nautische Meilen zurückgelegt. Der Kapitän hat die Log-Bücher der vergangenen zehn Jahre durchgesehen: sechs Tage und sechs Nächte ausschließlich unter Segeln, so etwas haben bisher weder die alte Windjammer-Lady „Sea Cloud“ noch die „Sea Cloud II“ geschafft.

„Veronika, der Lenz ist da“. Bordpianist Helge Herr hatte schon am Nachmittag begonnen, gegen Trübsinn an Bord anzuspielen. Norbert hatte zwar noch ein Stoßgebet ausgesandt: „Lieber Gott, mach' das Ruder krumm, dass sie nicht kommt um Barbados rum.“ Doch nachdem die letzten Segel mit dem Sonnenuntergang um 17.30 Uhr eingeholt wurden, es unter Motor Richtung Hafen ging und der Bugsierschlepper „Pelican II“ am Heck ansetzte, war klar: Leider findet auch diese Reise ein unvermeidliches Ende. Um 21 Uhr legen wir an. In Kürze heißt es wieder Landgang statt Seegang. Igor, der Segelmacher, geht mit seinen Leuten in „Port Yard“ oder in die Pinte „Harbour Night“. Mal sehen, wohin es mich zieht.

An Bord spielen sie „Volare“, während unser Bootsmann mit seinen Leuten das Schiff festmacht. Ich sollte mal wieder singen. Es müssen ja nicht immer Shanties sein.

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