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Wenn alle an einem Strang ziehen. Vom ersten bis zum sechsten Segeltag nur mit Windkraft unterwegs – das haben bisher weder die Windjammer-Lady „Sea Cloud“ noch die „Sea Cloud II“ geschafft.

© Reinhart Bünger

Reisetagebuch Tag 8: Segeln, was das Zeug hält: „Sea Cloud II“ auf Rekordfahrt

Kapitän Evgeny Nemerzhitskiy segelt seinen Vorgängern und Kollegen auf und davon. Seit heute hält er den Transatlantikrekord seiner Reederei. Dafür nehmen die Passagiere grau-blaue Wolken, etwas Schaukelei und die frische Brise gerne in Kauf: Sie sind vor Freude völlig durch den Wind. Zumal am Nikolaustag in der Bordküche wegen der kühlen Temperaturen endlich Glühwein ausgegeben werden soll.

Die Reederei sollte ihrem „Sea Cloud II“-Kapitän Evgeny Nemerzhitskiy ein „Blaues Band“ verleihen. Zwar eilte dem bescheidenen Estländer schon vor seiner Rekordfahrt – die immer noch nicht zu Ende ist – der Ruf voraus, er segle, was das Zeug hält. Doch dass er seit Donnerstag, 29. November 2012, 10 Uhr, bis zum Redaktionsschluss am Mittwoch, 5. Dezember, 1 Uhr, die Maschinen nur zum Freipusten der Ventile anlassen musste – das hat es bei „Sea Clouds“ noch nicht gegeben.

Es sei ja nicht sein Verdienst, sagt er und verweist auf die Mannschaft sowie auf die vorherrschenden Winde. Nemerzhitskiy stapelt tief, und das kann er auch: die Entfernung zum Meeresboden beträgt mehrere tausend Meter. Die Sache hat allerdings auch einen Haken. Jede Stunde unter Segeln verlieren wir etwa eine Meile zur errechneten Durchschnittsgeschwindigkeit. Zwei Möglichkeiten gibt es. Entweder Nemerzhitskiy macht jede Menge Wind – wozu er, wie gesagt, nicht neigt – oder er wirft einen Tag vor dem Ziel die Maschinen an. Am letzten Tag kann es dann beim Kofferpacken etwas unruhig werden. Sollte uns aber recht sein.

Am Morgen war von dem am Horizont bereits erkennbaren Rekord noch keine Rede gewesen. Allerdings war der Erste Ingenieur, Klaus Günther, heute in ein Gespräch mit dem Kapitän vertieft. Günther führt das Fähnlein der Technischen Offiziere an. Der „Chief“ wurde möglicherweise von der Frage auf die Brücke getrieben, ob er und seine Leute bis Barbados im Maschinenraum überhaupt noch gebraucht werden. Ihm sei es so auch recht, sagte er auf meine Frage, ob er auch ohne die blubbernde Maschine leben könne. „Immerhin sparen wir am Tag 10 bis 11 Tonnen Marine-Diesel.“ Bei den derzeitigen Rohölpreisen ist das richtig viel Geld.

Passagier Norbert, der schon acht Transatlantikfahrten mit „Sea Cloud“ und „Sea Cloud II“ gemacht hat, sagt: „So etwas habe ich in dieser Kontinuität noch nicht erlebt. Aber die Wetterverhältnisse geben es eben auch her.“ Und der Kapitän gehe auch mal das Risiko ein, über eine längere Zeit sechs Knoten zu laufen – acht/neun Knoten sollten es im Schnitt eigentlich sein. Doch Nemerzhitskiy segele seinen eigenen Kurs – der errechneten Ideallinie nähert er sich gerne im Zick-Zack: Der ist zwar etwas länger, doch das Segeln macht so mehr Spaß.

Und in der Regel erreicht die „Sea Cloud II“ auch eine höhere Geschwindigkeit, die den längeren Fahrtweg wieder wettmacht. 1933 nautische Meilen haben wir am Nachmittag noch vor uns. Die Windstärke pendelt um 6. Die bisherige Durchschnittsgeschwindigkeit betrug 6,9.

Passt! Nicht nur beim Befestigen eines Segels ist Präzision gefragt – jedes neue Tuch wird nach Maß genäht.
Passt! Nicht nur beim Befestigen eines Segels ist Präzision gefragt – jedes neue Tuch wird nach Maß genäht.

© Reinhart Bünger

Am Morgen haben sie erst einmal ein neues „Groß Royal“-Segel an der Rahe angebracht. Das alte war an einer Stelle auf einer Länge von 50 Zentimetern quer gerissen. Nach der Reparatur durch Segelmacher Igor soll das alte Tuch nun ein Ersatzsegel werden. Bange Minuten, als das Segel angebracht wird: Schließlich ist es nagelneu, und da stellt sich immer die Frage, ob die Maßkonfektion passt. Denn die Segel kommen nicht von der Stange.

Alles geht gut. Kann höchstens bei 60 Grad etwas einlaufen. Das bereits sechs Jahre alte Focksegel am Vormast wollen sie vorsichtshalber auch noch austauschen. Man weiß ja nicht, zu welchen weiteren Rekorden Evgeny Nemerzhitskiy in den kommenden Tagen fähig ist.

Mit Blick auf den Kalender ist fast schon Halbzeit und meine Angst, plötzlich Zahnschmerzen zu bekommen, schwindet von Tag zu Tag. Zumal: Es ist ein Zahnarzt an Bord, „mit Notbesteck“, wie er mir am ersten Tag am Frühstückstisch erzählte.

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